„Gestern abend sagte er mir, daß er einen Typ von Frau im Sinn habe, verheiratet, der obersten Schicht zugehörig, die sich aber selbst verloren hat.“ Hier ist nicht von einem gebeichteten Seitensprung die Rede, sondern es ist dies die allererste Erwähnung von Tolstois Ehefrau über den geplanten neuen Roman ihres Gatten. Sechs lange Jahre hatte er an Krieg und Frieden gearbeitet. Nun hatte sich Leo Tolstoi, müde und enttäuscht über die hämische Reaktion, auf sein Gut zurückgezogen. Doch bald schon arbeitete er am zweiten großen Roman seines Lebens, Anna Karenina. Zu vielschichtig und psychologisch feinst verwoben ist dieses riesige, 1878 erschienene Werk, um es hier auch nur ansatzweise zu erfassen. Erzählt wird die Geschichte der adligen Familie Karenin, einer dekadenten, in gesellschaftlichen Normen erstarrten Sippe. Die Kälte ihres Gatten treibt die sensible Anna dem wesentlich jüngeren Grafen Wronskij in die Arme. Diese stark sexuell orientierte Beziehung endet im Fiasko. Schließlich richtet Anna sich selbst, aber auch ihren Mann und den Geliebten zugrunde. In der anderen großen Figur des Romans, dem Gutsbesitzer Lewin, hatte sich Tolstoi selbst verewigt. Dessen Rückzug aus der Moskauer Gesellschaft und seine Selbstbescheidung auf ein bäuerlich schlichtes Leben verkörperten auch Tolstois Ideale.Das Selbstmordmotiv legte den Vergleich mit Flauberts Madame Bovary nahe. Jedoch erreicht Flaubert bei weitem nicht Tolstois Realismus und dessen tiefe psychologische Aufarbeitung von Schuld, Verstrickung, Haltlosigkeit und Verantwortung im Umgang mit seinen Figuren. –Ravi Unger
— Dieser Text bezieht sich auf eine vergriffene oder nicht verfügbare Ausgabe dieses Titels.