Nun stand er wieder am Lesepult, Brille halb herabgerutscht, die Pfeife erkaltet, das Rotweinglas stets griffbereit. Den Triumph, eine nationale Debatte literarisch losgetreten zu haben, genoss er sichtlich. Figuren aus früheren Romanen hatten noch einmal ihren Auftritt, ein literarischer Kreis schloss sich. Selbst sein kritischer Quälgeist, der „unvermeidliche Nörgler“, den er ein Leben lang nicht loswerden sollte, schämte sich seiner Tränen nicht. Als längst niemand mehr damit gerechnet hatte, als es so aussah, als ob er ausgeschrieben hätte, hatte Günter Grass sein altes Danzig noch einmal aufgesucht — und war mit einem Bestseller zurückgekehrt. Mit dem Überraschungserfolg der Novelle Im Krebsgang und der sich anschließenden politischen Diskussion, endet Michael Jürgs‘ lange Reise ins Innenleben des Bürgers Grass. Nicht nur stur Lebensdaten herbetend, umschwebt der ehemalige Stern-Chefredakteur den nunmehr 75-Jährigen förmlich meditierend, schlägt aber beim Versuch, eigenen dichterischen Impulsen nachzugeben, bisweilen über die Stränge. Vom Sohn eines Kolonialwarenhändlers in Danzig-Langfuhr zum Bildhauer, Grafiker und Romancier — schließlich zum Gewissen der Nation. Viel Privates über den nicht immer grundsoliden Patriarchen, Frauen- und Pilzkenner weiß Jürgs zu berichten, das Werk des Nobelpreisträgers bleibt indes merkwürdig unterbelichtet. Literaturfreunde werden die Interna aus der Gruppe 47 dankbar begrüßen, jenem legendären Literaturkreis, der 1958 die ersten Kapitel der Blechtrommel zu hören bekam. Dann wieder werden wir mit kulinarischen Fragwürdigkeiten wie Kutteln konfrontiert, die Grass Freunden mit Vorliebe auftischte, was geladenen Schöngeistern nicht selten den Schweiß auf die Stirn trieb. Auch erfahren wir mit Staunen, welch feuriger Tangotänzer Grass noch immer ist. Leicht schieflagiges, aber einfühlsames Porträt eines „auf eine verquere Art Unkomplizierten“. SPD-Wahlkämpfer und Brandt-Freund mit dem Image des ewig Belehrenden. Ein Fighter mit schlechten Nehmerqualitäten. Hochempfindsam, robust genug jedoch, Kunst- und Geschäftssinn auf das Förderlichste zu verbinden. Einer, der sich schließlich, allen Erfolgen zum Trotz, stets als politisch engagierter Kleinbürger Grass begriff. Und den werden wir noch lange brauchen. –Ravi Unger
— Dieser Text bezieht sich auf eine vergriffene oder nicht verfügbare Ausgabe dieses Titels.