Die junge Staatsanwältin Emily Watson sieht die Chance ihres Lebens gekommen, als ihr der Oberstaatsanwalt einen spektakulären Fall überträgt: Sie soll die Anklage führen im Mordverfahren gegen Gregg Aldrich, der beschuldigt wird, seine Frau Natalie getötet zu haben, aber alles abstreitet. Der Fall erregt so großes Aufsehen, weil Natalie eine prominente, sogar mit dem Oscar ausgezeichnete Schauspielerin war – und weil der Mord schon zwei Jahre zurückliegt, die Ermittlungen bislang aber noch zu keiner Anklage geführt haben. Doch nun ist ein Zeuge aufgetaucht, der Gregg scheinbar zwingend beschuldigt. Das Problem ist nur, dass es sich um einen Kriminellen handelt, der sich mit seiner Aussage eine mildere Strafe in seinem eigenen Prozess erkauft. Das stört Emily jedoch wenig. Sie hält die Indizien für unwiderlegbar und zieht in die Prozessschlacht. Der Prozess läuft gut, die Kommentatoren in den Medien – immerhin wird täglich im Fernsehen über das Verfahren berichtet – sind sich einig, dass Emily den Fall gewinnen wird, und es scheint nur noch die Frage zu sein, ob die Geschworenen einstimmig oder nicht einstimmig auf „schuldig“ plädieren. Doch je positiver sich der Prozess entwickelt, umso größer werden Emilys Zweifel, ob sie wirklich den Richtigen auf der Anklagebank sitzen hat. Und das ist nicht ihr einziges Problem: Denn ihr lauert ein Psychopath auf, der sich in ihrem Nachbarhaus eingemietet hat und sie heimlich observiert – mit dem klaren Vorsatz, sie umzubringen. Mary Higgins Clark, die Grande Old Dame des psychologischen Kriminalromans, hat mit Denn niemand hört dein Rufen nicht gerade ihr Opus magnum geschrieben, doch das kann man von einer über 80-jährigen Autorin vielleicht auch nicht verlangen. Im Großen, also in der Konstruktion, ist das Buch eher missraten; die Auflösung ist allzu unwahrscheinlich und hingeschludert, und die Verknüpfung der Haupthandlung mit dem zweiten Handlungsstrang (dem die Protagonistin verfolgenden Psychopathen) ist unbefriedigend, ja ärgerlich. Doch im Kleinen ist der Roman gelungen: Higgins Clark schafft glaubwürdige Charaktere – insbesondere Emily ist eine hervorragende Identifikationsfigur –, und die Kapitel, die den Prozessverlauf schildern (die eigentliche Verhandlung nimmt locker die Hälfte des Buches ein, sodass es fast schon ein Justizthriller ist), sind einschränkungslos spannend. Denn niemand hört dein Rufen ist also ein Buch, das zwar in der Rückschau leise enttäuscht, weil vieles doch zu unwahrscheinlich, zu konstruiert, zu sinnlos wirkt, das man aber trotzdem mit Vergnügen liest. – Christoph Nettersheim