Wer früher leichtfertig von der „Gesellschaft“ sprach, wird heute Nachfragen ausgesetzt. Meint er die Kommunikationsgesellschaft (Richard Münch), die Risikogesellschaft (Ulrich Beck), die „Gesellschaft der Gesellschaft“ (Niklas Luhmann) oder etwa die Erlebnisgesellschaft? Gerhard Schulze hat letztere nicht entdeckt, ihr aber als erster ein kultursoziologisch umfassendes, nahezu enzyklopädisches Studium gewidmet, das zudem durch eine empirische Erhebung an der Megaerlebnis-City Nürnberg abgesichert ist. Nach dem Altklassiker Veblen („Theorie der feinen Leute“) und dem Neuklassiker Bourdieu („Die feinen Unterschiede“) hat Schulze das Feingarn weitergesponnen, das Kleider zu Leuten und Leben zu Erleben macht. Es wurde allerhöchste Zeit. Wer sich im Obstkistenmilieu seiner Studentenbude wohl fühlt, wer seine gepflegte Vorgartenmentalität als wohlsituierten Bürgersinn vorstellt oder seine Klassik-Schallplattensammlung als Distinktionszeichen gegen die Neovulgarität des kulturschwachen Klientel von „Bild“ und „Herzilein“ ausspielt, der verrät sein Milieu. Gerhard Schulze hat nach gezählt. Fünf Milieubeschreibungen mit einigen Unschärfen sind daraus geworden. Im Harmoniemilieu relaxt der Kleinbürger, der seine Geborgenheit in der Distanz zur Karajan-Hochkultur und in der muffigen Nähe zum Trivialschema von Heino und anderen Unterhaltungsriesen sucht. Im Unterhaltungsmilieu regiert die Spannungsorientierung in Distanz zu Hoch- und Trivialkultur. Die gegenwartsbezogene Bedürfnisstruktur dieses Milieutyps reagiert auf Stimulationsapparaturen und Illusionsmaschinerien, die auf die Verdrängung von Enttäuschungen programmiert sind. Das Erlebnisparadigma dieses Typs erfüllt sich in einer kurzen „Bacardi Time“ zwischen Abfahrtslauf und whirl-pool. Im Integrationsmilieu tummeln sich die aufgeklärten Spießer in der Aura wohliger Durchschnittlichkeit. Antibarbarische und antiexzentrische Distinktion verbinden sich zur „netten Runde“, in der niemand aus der Reihe tanzt, aber auch nicht die primitiven Varianten der Gemütlichkeit des Harmoniemilieus der Neigung zur vorsichtigen Verfeinerung des häuslichen Lebensstils entgegenstehen. Im Niveaumilieu finden wir die Alpha Tiere, die high brows, die Bildungsbürger, die ihren gesellschaftlichen Rang in der Distanz gegenüber dem Trivial- und Spannungsschema konturieren. Der antibabarische Ekel der niveauorientierten Alltagsästhetik richtet sich gegen die unreflektierten Trendsüchtigen, die ihrem Lifestyle kurzlebige Etiketten wie „poppig“, „cool“ oder „provozierend“ aufdrücken. Die Distinktionszeichen des Adels des Geistes sind dem vergangenheitsgesättigten Bestand klassischer Bildung entnommen. In der Polyphonie der erlebnisheischenden Stimmen, die ihre kleinen narzisstischen Kulturen hegen und pflegen, ihre Miniaturmoral als allgemeinverbindlich vorstellen oder ihr saturiertes Lifestyle-Kingdom als Hort der Erfüllung deklarieren, hört Schulze mithin die Einzelstimmen heraus. Wenn auch der Alltag der allseits milieugeschädigten Persönlichkeiten in der Vision unserer Erlebnistheoretiker seine endgültige Aufhebung in die totale Erlebnisgesellschaft feiert, bleibt zu fragen, welche Bedeutung dem Erlebnisparadigma zukommt. Erleben meint Innenleben. Auch wenn die äußeren Veranstaltungen des Erlebnismarktes seine sichtbaren Zeichen sind, ist die Subjektkonstitution die entscheidende Voraussetzung der Erlebnisrationalität. Die psychologische Innenausstattung der Erlebnisbereiten wird mithin zum zentralen Bearbeitungsgegenstand der Erlebnisgesellschafter und ihrer Zuarbeiter. Der psychologisierende small talk, der auf die Ausbildung der Selbsterlebensfähigkeit zielt, ist zur Zerrform einer Gesprächskultur geworden. Dem Verfall der Gesprächskultur entspricht der Siegeszug des orientierungsschwachen Bewusstseins. Im Dschungel der Lebenswelten breitet sich unter der kommunikativen Oberfläche das Unterholz der Beliebigkeiten aus, vieles für (er)lebbar zu halten und doch nichts leben zu müssen. Zweifel regen sich allerdings gegen die Allverbindlichkeit des von Schulze ermittelten kategorischen Imperativs der Erlebnisgesellschaft „Erlebe dein Leben“, der den der aufgeklärten Moralgesellschaft abgelöst haben soll. Imperative, die dem Faktischen das normative Gepräge verleihen, sind nicht nur dem Verdacht ausgesetzt, Sein und Sollen in guter philosophischer Tradition zu vermischen. Vielmehr trifft sie der Einwand, partikulare, oft ephemere Haltungen zu habituellen Befindlichkeiten zu formen. Wo trifft dieser Imperativ die Null Bock Gesellschaft? Gilt auch für Punks, Skins, Neo Nazis oder Öko-Paxe der Erlebnisimperativ? Hier wird der heuristische Erkenntniswert des Paradigmas „Erlebnisgesellschaft“ weiterzuentwickeln sein. Erleben zwischen Lebenslust und Lebensfrust bestimmt nicht nur den Erkenntnisstoff einer „Kultursoziologie der Gegenwart“ (Untertitel), sondern ist in vielen Konzepten der Lebensphilosophie ante litteram schon thematisiert worden. Als vitalistisches Leitmotiv wird es von Montaigne, Nietzsche, den bedeutenden Vertretern der Lebensphilosophie Bergson und Dilthey oder dem Kulturtheoretiker Huizinga gleichsam zur ontologischen Grundbefindlichkeit des Menschens gerechnet. Demgegenüber reklamiert Schulze die Signifikanz seines Untersuchungsgegenstands im Verweisungszusammenhang zwischen innenorientierter Sinngebung und Alltäglichkeit des Erlebens. An die Stelle der gemächlichen Erlebnismanufaktur früherer Tage rückt heute in der Tat die hypertechnisierte Erlebnisfabrikation. Erlebnissoziologie und Mediensoziologie treffen danach auf eine gemeinsame, ständig wachsende Schnittmenge von Gegenstandsbereichen. Das moderne Bewußtsein mit seinen postmodernen Knospen und den welken Blüten des posthistoire verliert die Trennschärfe für die Realität des Subjekts, seine biographischen Momente, die Einbettung dieser Realität in eine gesellschaftliche und die fiktionalen Veranstaltungen der Medienrealität. Der Differenzierungsverlust ist zugleich ein Verlust der persönlichen Geschichte, die aufgeladen wird mit Erzählungen, Bildern, Texten, zufälligen Funden und alten Dogmen. Das moderne Subjekt wird mit immer neuen Programmen bespielt, gespeist mit Erlebnisbildern, die keiner Zeit- oder Raumlogik mehr gehorchen müssen. Diesen Demontagen des Bewußtseins gebietet keine Erlebnismoral nach den Wert- und Weltbildverlusten Einhalt. Erlebnissüchtige leiden oft an der Vergeblichkeit ihrer Anstrengungen wie auch an der Ziellosigkeit ihres Strebens. Lebensziele werden durch das Innewerden kontingenter Erfahrungen fragwürdiger Erzählstoff. Die zähflüssigen Bewegungen des Alltagslebens verhöhnen oft nur mit der Fata Morgana der Erlebnisgesellschaft, als dass sie deren Verheißungen wahr machen. Kommunikatives und mimetisches Erleben werden aber im Zuge der Rationalisierung und Beschleunigung von Arbeitswelten nur noch reduziert gewährt. Erlebnisversprechen und Erlebnisimperativ entheben uns nicht der Widerständigkeit der Verhältnisse, die den einzelnen auf das Erlebnis festlegen, das ihm seine Kreditkarte im Urlaub und nach Feierabend gewährt. So mögen unseren Salons aus Memphis, Laura-Ashley-Kitsch, Marcel-Breuer- Romantik, entsachlichter Neusachlichkeit oder Braun Design als neonostalgischem Dekor zwar die Wagenfeld Lampen heimleuchten. Heimisch fühlt sich darin vor allem die Ikea-geplagte Seele auf der Suche nach den Restposten einer distinkten Lifestyle-Kultur. Der Erlebnisirrationalität der polymorphen Unterhaltungskultur begegnet noch keine Erlebnisversicherung, die einen gesunden Geist in einem gesunden Körper garantiert. Erlebnisterror spottet dem Programm einer psychosomatischen Diätetik, das Baruch Spinoza noch so zu fassen glaubte: „Wohlbehagen kann kein Übermaß haben, sondern ist immer gut; Missbehagen dagegen ist immer schlecht.“ Die Milieus, die Schulze analytisch zu trennen weiß, sind inzwischen promiskuitiv geworden. Zahlreiche Milieus ergehen sich in immer neuen Beziehungen zum Kaleidoskop einer komplexen Weltgesellschaft, die politische, wirtschaftliche, nationale, kulturelle und folkloristische Grenzen relativiert. Die Gesellschaft liegt auf der Erlebnis-Intensivstation, aber Transfusionen sind nur dann erfolgreich, wenn man die Blutgruppe der Erlebnisheischenden kennt. –Dr. Goedart Palm