Die Spezialliteratur zu einzelnen Kathedralen sowie die kunst- und bauhistorischen Fachtitel zu dieser Form des Kirchenbaus sind kaum noch zu überschauen. Allgemeiner gehaltene Darstellungen aber, die dem Phänomen Kathedrale sowohl aus kirchen- als auch kulturgeschichtlicher Perspektive nachgehen, sind rar. Natürlich ist dabei an erster Stelle die intellektuell überragende Abhandlung Georges Dubys Die Zeit der Kathedralen. Kunst und Gesellschaft 980-1420 zu nennen. Norbert Ohler hat sich nun dem Gesamtkunstwerk Kathedrale in jedweder Hinsicht professionell, umfassend und gut geschrieben in diesem knapp 500 Seiten zählenden Sachbuch angenommen. Für alle an mittelalterlicher (Kirchen-)Geschichte Interessierte, aber auch für Studenten und Fachkreise ist das Buch zu empfehlen, obwohl Letztere Auslassungen, Verallgemeinerungen und Verkürzungen bemängeln werden. Der Nachteil einer Überblicksdarstellung, deren Aufgabe jedoch nicht die diffizilen Details, sondern die großen Zusammenhänge sind. Das Pensum Ohlers ist bemerkenswert: Angefangen von den Erklärungen der unterschiedlichen Bezeichnungen und ihrer Bedeutungen für das Gotteshaus (Tempel, Basilika, Oratorium, Kirche, Kathedrale, Dom, Münster) über Vergleiche von Heiligtümern (Synagoge, Tempel, Kirche, Moschee) bis zur Frage nach Kontinuitäten und Brüchen reicht der erste Teil. Die Funktionen (Eucharistie, Sakramentspendung, Sakralraum, Krönung, Gebet, Predigt, Start und Ziel von Prozessionen, Heiligenverehrung, Wunder, Versammlungsort, Statussymbol, Orte von Gewalt) sind Gegenstand des zweiten Teils, dem sich Chronologie und Entwicklung in Typ und Bauformen (dritter Teil) und die Beziehungen zwischen Kathedrale und Stadt (vierter Teil) anschließen. Das Hoch- und Spätmittelalter als Blütezeit der Kathedralen (fünfter Teil), der eigentliche Kathedralbau (Bauherren und Bauausführung, Baumotivation, Finanzierung, Baumaterial, Kathedrale als Baustelle und Arbeitsplatz, Technik und Handwerkskunst), Ausstattung, Symbolik der Bauelemente sowie als Abschluss die Rezeptionsgeschichte und die Kathedrale von Reformation über Säkularisation bis ins 20. Jahrhundert (Teil sechs bis zehn) vervollständigen die komprimierten, immer leicht verständlichen Ausführungen, denen man die intensive Auseinandersetzung mit dem Thema ebenso wie die Souveränität im Umgang mit Quellen und Literatur anmerkt. Die nur auf das Notwendigste beschränkten Anmerkungen, Quellen und Literatur hätten umfangreicher, aktueller und auch spezieller ausfallen können, zum Leid des Lesers gibt es kein Register. Doch ansonsten: eine uneingeschränkte Leseempfehlung. Und alle, deren Interesse geweckt ist, sollten nach Die Kathedrale hier nachschauen: Menschen im Schatten der Kathedrale. Neuigkeiten aus dem Mittelalter mit Schwerpunkt auf der Alltagsgeschichte oder das Kinder- und Jugendbuch Sie bauten eine Kathedrale von David Macaulay, das sich zum Klassiker auch für Erwachsene gemausert hat. Wer einfach nur in einem traumhaft schönen Bildband über die großartigen Gewölbe in Kathedralen schwelgen will, sollte unbedingt zu Gewölbe des Himmels. Die schönsten Kathedralen der Welt greifen. –Osseline Kind
— Dieser Text bezieht sich auf eine vergriffene oder nicht verfügbare Ausgabe dieses Titels.