Wir haben uns längst daran gewöhnt, über den Holocaust in möglichst abstrakten Kategorien zu reden und zu schreiben. Und auch Bücher zu diesem Thema, wenn wir denn überhaupt noch bereit sind, sie zu lesen, sollten so beschaffen sein, dass wir uns die Sache selbst emotional vom Leibe halten können. So schützten wir uns davor, immer wieder aufs Neue in diesen wohlbekannten düsteren Gefühlsstrudel zu geraten. Doch hin und wieder ist es wohl doch nötig, sich dem auszusetzen, was beim Hören oder Lesen einer wahren (Lebens-)Geschichte aus jener Zeit unausweichlich von uns Besitz ergreift. Du darfst nie sagen, dass du Rachmil heißt ist so eine Geschichte. Eigentlich wollte Rosine de Dijn in dem Trappistenkloster von Westvleteren nur einen Kasten Bier kaufen und Broeder Alfons noch kurz guten Tag sagen. Der aber hatte anderes im Sinn und übergab ihr sämtliche im Kloster auffindbaren Unterlagen über die Kriegsjahre und erzählte ihr eine unglaubliche Geschichte über einen kleinen jüdischen Jungen, dem man 1943 Unterschlupf in der Abtei gewährt hatte und den man schließlich in eine flämische Familie vermitteln konnte, wo er den Holocaust überlebte. „Die Geschichte“, schreibt die Autorin, „lag ihm wohl sehr am Herzen“. Und ihr sei mulmig geworden angesichts der Stapel von Unterlagen, persönlichen Briefen, Notizen und Fotografien. „Intime Erinnerungen völlig fremder Menschen, deren Geschichte einem zunächst fremd ist, die aber langsam mit Leben erfüllt wird, je mehr man sich auf das Ganze einläßt. Bis sie einen schließlich nicht mehr loslässt.“ Und in diesen Sog gerät man auch als Leser schnell, wenn man sich denn überhaupt erst einmal darauf einlässt, ein wenig hineinzulesen. Und das sollte man! — Hasso Greb