Die herkömmliche Auffassung des menschlichen Arbeitslebens „erfährt in diesen Jahren eine Revolution“. Die Arbeitswissenschaftler haben erkannt, dass der Mensch die klassische Forderung nach Disziplin und Pflichttreue zwar erfüllen kann, aber nur durch Unterdrückung seines eigenen Willens und seiner Begierden. Einen wesentlichen Teil seiner Energie setzt er also nicht für die Arbeit ein. Kann man diese Energien mobilisieren? „Lässt sich Gier oder Siegeswille in Arbeit verwandeln?“ Ja – und zwar im Prinzip ganz einfach. Man stelle dem Menschen sein Gehalt nicht dafür in Aussicht, dass er tut, was ihm gesagt wird, sondern dafür, dass er auf irgendeiner Leistungsskala möglichst viele Punkte erreicht. Das klingt einleuchtend. Nicht Vernunft noch Intuition, sondern weit gehend unbewusste Triebe und Ängste bestimmen vorrangig das Verhalten des Menschen – Gunter Dueck, Mathematiker und Manager bei IBM, hat das in seinem letzten Buch „Omnisophie“ (Spektrum der Wissenschaft 11/2003, S. 88) ausgeführt, indem er nicht drei Seelen in der Brust des Menschen, sondern drei sehr verschiedene Computer in seinem Hirn postulierte. Also appelliere man nicht an seine Vernunft oder sein Pflichtbewusstsein, sondern spreche durch gezielte Anreize die mächtigsten Triebfedern in seinem Innersten an: seine Geldgier und seine Angst vor Minderwertigkeit. Für Verkäufer, die von Provisionen leben, ist das nichts Neues; neu ist, dass dieses Prinzip auf viele andere Berufe übertragen wird, auch solche, in denen die Leistung nicht an der Zahl gefertigter Werkstücke oder verkaufter Versicherungsverträge ablesbar ist. Wo ein solcher quantitativer Maßstab fehlt, wird flugs einer definiert. Und damit beginnt das eigentliche Übel. Dueck beschreibt die Folgen aus profunder Insiderkenntnis. Bei allem, was der Mitarbeiter tut, denkt er an seine Punkte und handelt danach. Für Zusammenarbeit und Hilfe unter Kollegen ist da wenig Platz, denn das System der Punktezumessung ist so ausgelegt, dass alle Leistungen einzelnen Mitarbeitern zugerechnet werden („accountability“). In der Regel misst ein solches Punktesystem nur einen Teil dessen, auf das es wirklich ankommt, und lädt damit zu widersinnigem Verhalten ein: Ein Verleger, dessen Leistung nur an der Anzahl publizierter Bücher gemessen wird, kann mächtig Punkte machen (und seinen Geschäftsführer positiv beeindrucken), indem er jede Menge Bücher auf den Markt bringt, die mangels Qualität besser ungedruckt geblieben wären. Selbst wenn der Leistungsmaßstab an sich nicht zu beanstanden ist, kann die ausschließliche Orientierung an Kennzahlen zu absurden Ergebnissen führen. Beispiel „Mitarbeiterzufriedenheit“: Die Anzahl der Kündigungen ist ein guter Indikator. Was macht der Chef, der auf der Skala „Mitarbeiterzufriedenheit“ hohe Punktzahlen erzielen will? Er gewährt seinen Leuten reich dotierte Aktienoptionen, die man nur nutzen kann, wenn man in fünf Jahren noch bei der Firma ist. Daraufhin sinkt die Kündigungsrate – die Leute haben jetzt ja mehr zu verlieren -, aber die Zufriedenheit ist nicht angestiegen! Alle Jahre aufs Neue schaut sich die oberste Geschäftsleitung der Firma die zahlreichen Kennzahlen an, mit denen der Zustand der Firma gemessen wird, findet eine, die im Argen liegt (Umsatz, Gewinn, Kundenzufriedenheit …), und gibt die Anweisung aus, diese und nur diese Kennzahl zu verbessern. Da schaudert es jeden Optimierer, und den Autor, der sich durch neue Optimierungsverfahren einen Namen gemacht hat, erst recht. Denn gerade wenn die Firma in einem optimalen Zustand ist, wird jedes Drehen an einer der zahlreichen Stellschrauben diesen Zustand zunächst verschlechtern. Wenn im jährlichen Wechsel der Geschäftsziele die berüchtigte Konzentration auf die Kernkompetenzen angesagt ist, wird das schlechteste Drittel der Mitarbeiter entlassen. Durch die allgegenwärtigen Punktzahlen glaubt man genau zu wissen, wer das ist. Natürlich gibt sich jeder die größte Mühe, nicht zum schlechtesten Drittel zu gehören, und findet die abenteuerlichsten Wege, seine Punktzahl hochzutreiben, wenn ihm das durch ehrliche Arbeit nicht gelingt. Die Sammlung drastischer Beispiele zu diesem Thema – allenfalls leicht übertrieben, beteuert der Autor – war für mich der eindrucksvollste Teil des Buchs. Ich hätte nie gedacht, dass einige Geschichten aus den Hochburgen des Kapitalismus ausgerechnet Honeckerwitzen zum Verwechseln ähnlich sind. Dueck geht so weit, die jüngsten Bilanzskandale dem allgegenwärtigen Zwang zum Punktebetrug zuzuschreiben und die anhaltend hohe Arbeitslosigkeit der Tatsache, dass moderne Firmen für das unterdurchschnittliche Drittel ihrer Mitarbeiter keine Verwendung mehr zu haben glauben. In seiner Darstellung ist die „Supramanie“, die Sucht, immer der Erste zu sein, eine Krankheit der Gesellschaft. Die Leidenden sind sowohl die „Leistungsträger“, die für viel Geld den höchsten Einsatz bringen, dafür alles andere im Leben hintanstellen und vom vorzeitigen „burn-out“ bedroht sind, als auch die Unterdurchschnittlichen, die mit dem Makel der persönlichen Minderwertigkeit leben müssen. Dinge, die das Leben lebenswert machen: Selbstachtung, Vertrauen, Identifizieren mit der Arbeit, Begeisterung, gehen unter in der ewigen Jagd nach den Punkten. Aber die Gesellschaft empfindet sich, zumindest in diesem Punkt, nicht als krank: Es florieren ja gerade die Firmen, die Supramanie praktizieren. Was ist die Krankheitsursache? Ist es die „Omnimetrie“ selbst, der Versuch, den ganzen Menschen durch Kennzahlen zu erfassen, oder nur die ungeschickte Anwendung der Omnimetrie, wie Dueck noch in seinem Buch „Wild Duck“ annahm (Spektrum der Wissenschaft 11/2000, S. 101)? Diesmal spricht er nicht mehr davon, dass eine noch intensivere Verwendung von Kennzahlen dem Unfug mit den Kennzahlen ein Ende machen könne. Was ist die Therapie der Krankheit? Ein „Zurück zu den alten Zeiten“ ist illusorisch. Natürlich gibt es eine theoretische Lösung: „Wie wäre dies? Wir verzichteten auf zwanzig Prozent unseres Gehaltes und drehten das Übermaß der geforderten Arbeits- und Leistungsdichte wieder zurück? Wir bekämen wieder Anerkennung und Dank statt immer nur Geld? Wir würden hochleben statt höherwertig?“ Aber Dueck beherrscht das Geschäft der Optimierung viel zu gut, um nicht zu wissen, dass die Gesellschaft als Ganzes sich nicht in diese Richtung bewegen wird. Am Ende entlässt er den Leser ohne Trost. „Der Weise ist so ganz zerrissen. Kann der Welt denn überhaupt geholfen werden? Er weiß es nicht. Will sie sich helfen lassen? Definitiv nicht. Ist ihr klar, dass sie Hilfe braucht? Nicht wirklich. Dies ist Teil des Problems.“ So muss er sich diesmal mit dem Versuch begnügen, der Welt – oder wenigstens dem Leser – das klar zu machen. Denn für den in die Zukunft gerichteten dritten Teil seiner Trilogie aus „Omnisophie“, „Supramanie“ und „Topothesie“ ringt der Autor noch mit Worten. –Christoph Pöppe
— Dieser Text bezieht sich auf eine vergriffene oder nicht verfügbare Ausgabe dieses Titels.