Die Gesundheitsreform ist in aller Munde. Die Parteien streiten sich, die Verbände wollen ire Besitztümer erhalten und das Volk ist betroffen und klagt. Die Berlin-Brandenburgische Akademie der Wissenschaften (BBAW) hat in einer interdisziplinären Arbeitsgruppe „Gesundheitsstandards“ seit dem Jahr 2000 eine fundamentale Studie erarbeitet, die jetzt als Buch mit dem Titel „Gesundheit nach Maß?“ vorliegt. Die Analyse der Lage ist evident: Das deutsche Gesundheitssystem sieht sich wie das der europäischen Nachbarländer mit dramatischen Herausforderungen konfrontiert. Weithin besteht Einigkeit, daß diese Herausforderungen erhebliche Veränderungen nach sich ziehen müssen. Zwischen dem Einvernehmen in der Defizitanalyse und der Systemdiagnose einerseits und unterschiedlichen Reformvorstellungen andererseits treten jedoch erhebliche Diskrepanzen auf. An wissenschaftlichen Studien zur Reform des deutschen Gesundheitssystems besteht dabei kein Mangel. Sie haben jedoch nicht dazu geführt, daß Kontroversen über Reformbedarf, Reformziele und Reformschritte durch Konsense abgelöst wurden. Das nährt den Verdacht, daß der Diskussion um das Gesundheitssystem Friktionen zugrunde liegen, die in bloß organisationspragmatischen und finanziertungstechnischen Überlegungen nicht manifest werden. Die Studie „Gesundheit nach Maß?“ versucht, entsprechende grundlegende Fragen und Probleme hinter der aktuellen Reformdebatte aufzudecken, Vorschläge für die Systemgestaltung zu gewinnen. Es geht um eine Untersuchung derjenigen Fragen und Probleme, die für ein ethisch gerechtfertigtes, medizinisch fachgerechtes, wirtschaftlich vernünftiges und rechtlich kompatibles Gesundheitssystem maßgebend sind. Die Gesichtspunkte bei den Überlegungen im Sinne einer Bestandsaufnahme waren: demographischer Wandel, medizinischer Fortschritt, zunehmende Finanzierungsdefizite, Intransparenz der Finanzströme und unkoordinierte Versorgungs-, Finanzierungs- und Vergütungsstrukturen. Die vorliegende Studie hat sich imGegensatz zu den Empfehlungen etwa der Rürup- oder Herzog-Kommission, die vorrangig Vorschläge zur Reparatur systemimmanenter Schwierigkeiten des deutschen Gesundheitssystems zu machen, eine andere, in gewisser Weise komplementäre Aufgabe gestellt. Sie versucht, auf der Basis grundlegender philosophischer, medizinischer, rechtlicher und ökonomischer Überlegungen ein Modell zu entwickeln, das geeignet sein könnte, wirkliche Reformschritte aus dem gegenwärtigen System heraus zielorientiert abzuleiten. Eckpunkte eines solchen Reformmodells betreffen ordnungspolitische Veränderungen, wie neue Partizipationsstrukturen, eine Mindestversicherungspflicht für alle Bürger mit individueller Wahlfreiheit hinsichtlich des Versicherers auf der einen Seite, eine neue Anbieterpluralität mit Kontrahierungszwang auf der anderen Seite. Die Rolle des Staates soll sich in Richtung einer reinen Gewährleistungsaufsicht verändern. Bezüglich der Finanzierung setzt sich die Studie für Personen- (‚Kopf-‚)Pauschalen ein. Der soziale Ausgleich soll durch Übernahme der Pauschalen für die Kinder und Umverteilungsmaßnahmen bei niedrigen Einkommen erfolgen. Grundsätzlich soll das Gesundheitssystem durch mehr Kapitaldeckung gegen unvorhersehbare Ausschläge gesichert werden. Die Studie tritt ferner für eine Veränderung der Vergütungsstrukturen im Wege einer weiteren Liberalisierung des Vertragsrechts ein. Dies schließt vor allem eine qualitätsorientierte Vergütung ein, durch die ein wesentliches Instrument der Qualitätssicherung medizinischer Leistungen geschaffen werden soll. Wie bei einer Passacaglia hat sich bei den Überlegungen zu den Grundlagen eines zukünftigen dauerhaften Gesundheitssystems ein durchgängiges Grundthema gezeigt: der Antagonismus zwischen der Singularität des Arzt-Patient-Verhältnisses einerseits und dem gesundheitsökonomischen Druck zu einer möglichst weitgehenden Standardisierung der medizinischen Leistungen andererseits. Hierbei geht es nur vordergründig um partikuläre Interessen sozialer Gruppen, etwa von Ärzten und anderen Leistungserbringern auf der einen und von Patienten und Beitragszahlern auf der anderen Seite. Vielmehr trägt jeder Teilnehmer am Gesundheitssystem den Antagonismus in sich: Es ist der gleiche Patient, der eine möglichst weitgehende Rücksichtnahme auf seine individuellen Bedürfnisse erwartet und der als Beitragszahler möglichst kostenarm davonkommen möchte. Die Frage nach dem richtigen Maß betrifft das Verhalten des einzelnen, die Regeln der Interaktion von Arzt und Patient, aber auch die Organisationsprinzipien eines Gesundheitssystems als anonymer Großinstitution in einer hochkomplexen Gesellschaft. Die Frage nach dem rechten Maß bot sich daher als Titel für die Studie an.