Der fremde Vertraute — glücklicher hätte Jens Malte Fischer den Untertitel zu seiner monumentalen Gustav- Mahler-Biografie nicht wählen können: Gleichzeitig fremd und vertraut ist und bleibt dem Leser dieser eigenartige Mann. Mit seiner ganz eigenständigen und prägnanten Tonsprache, die äußerst konträr rezipiert wurde und wird, nimmt er unter den Komponisten an der Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert seit je her eine Sonderstellung ein. Seine kompromisslose Arbeitshaltung, die ihm, abgesehen von den eindeutigen Erfolgen, sicher mehr Probleme als Freude bereitete, nötigt einem höchste Bewunderung ab. Es ist dieser Kompromisslosigkeit und Härte gegen sich selbst und anderen zu verdanken, dass sein kompositorisches Werk heute überhaupt vorliegt, denn ein großer Teil seiner Sinfonien entstand praktisch während der Sommerpausen, in denen er eigentlich dringend der Erholung von seiner aufreibenden Dirigenten- und vor allem von seiner Operndirektoren-Tätigkeit bedurft hätte. Jens Malte Fischer, Professor für Theaterwissenschaft an der Münchner Universität und wie andere brillante Publikationen belegen Spezialist u. a. für die turbulente Zeit des Fin de siècle, bringt dem Leser den Menschen und Musiker Gustav Mahler auf der Basis profunder Quellenkenntnis so nahe, wie es eben möglich ist. Gleichzeitig aber verweilt Mahler als Person immer gerade so weit in Distanz, dass gewissermaßen an ihm vorbei stets der Blick auf sein Umfeld und seine Zeit möglich bleibt. Auf Mahlers Gattin Alma, auch sie ein Stück Zeitgeschichte, wenn auch nicht so sehr durch eigene hochkarätige Aktivität, wirft Fischer ein weitaus helleres Licht, als Almas autobiografische Schriften dies vermögen. Ihr Verhältnis zu Mahler, gern klischeehaft als typisches Mann-Frau-Gefälle charakterisiert, erfährt in diesem Buch eine ausgesprochen differenzierte Untersuchung. Ausführlich zur Sprache kommt selbstverständlich auch Mahlers Musik samt ihrer biografischen Hintergründe. Dabei erliegt Fischer keineswegs der Versuchung, die Werke allzu sehr aus dem Leben Mahlers heraus zu interpretieren und wird damit dessen eigenem Verdikt „Pereat den Programmen“ gerecht. Wer sich gründlich über Mahler informieren will, der wird in Zukunft an diesem Buch nicht vorbeikommen. Wer an Mahler und seiner Zeit interessiert ist, der findet hier eine Überfülle wertvoller Anregungen und Verweise, die im Anhang auf Fachpublikationsniveau erschlossen werden. –Michael Wersin