Gefühlshaushalte in Amerika Michael Chabon zeigt die Kunst des Scheiterns Perfider scheint ein Schicksal kaum sein zu können. Eine jüngere Frau, zu ihrem Leidwesen in ihrer Ehe bisher kinderlos geblieben, wird eines Abends beim Joggen am Lake Hollywood zum Opfer des «Stausee-Phantoms». Ausgerechnet von diesem Serienvergewaltiger – wie sich später herausstellt, ein beliebter Mathematiklehrer und Highschooltrainer aus Los Angeles – wird sie schwanger. Als sie das Testergebnis erfährt, entschliesst sie sich «aus dem Bauch heraus» – der eigentlich abgedroschene Ausdruck trifft hier einmal genau – zur Abtreibung. Doch am Abend zuvor teilt sie ihrem Mann plötzlich mit, sie werde den Termin absagen. «Das kann ich verstehen», lautet die seltsam lakonische Antwort ihres Mannes, dem es nicht nur in dieser Situation schwer zu fallen scheint, mit Gefühlen umzugehen, mit denen seiner Frau ebenso wie den eigenen. Das Dilemma der Ehe So knapp, wie Michael Chabon am Anfang dieser Erzählung – «Der Sohn des Wolfmannes» heisst sie, dunkel an einen Fall Freuds anklingend – mit dem Einbruch des Verhängnisses auch das stumme Dilemma dieser Ehe skizziert, so genau verfolgt er, was mit dem Paar in dieser perfiden Lage passiert. In seinem Erzählungsband «Junge Werwölfe» gibt Chabon den subtilen Vorgängen im Gefühlshaushalt seiner Figuren stets den Vorzug vor grellen Pointen. Der vierzigjährige Pulitzerpreisträger, der sich vor zwei Jahren mit seinem Roman «Die unglaublichen Abenteuer von Kavalier & Clay» endlich vom Ruf befreit hat, nur der ewige Wonderboy der amerikanischen Literatur zu sein, ist inzwischen ein beachtlicher Feindiagnostiker von Gefühlslagen an den heikleren Kreuzungen des Alltags. Nicht in allen Erzählungen ist sofort zu erkennen, dass sie eigentlich an einer einzigen, aber ebenso verkehrs- wie unfallreichen Kreuzung postiert sind. Jedenfalls wird man nicht immer mit der Nase darauf gestossen wie bei der Haussuche eines Paares, das zwei Jahre nach der Heirat schon diverse Anstrengungen hinter sich hat, die Ehe zu retten: «Paarberatung, lange Spaziergänge, einen Film anschauen namens ‹Schläge für Brittany Blue›». Auch die Suche nach dem neuen Domizil gehört zu dem Rettungsprogramm. Im Schlafzimmer einer Villa «im neonormannischen Stil», wo sie sich nach der Besichtigung ungestört beraten wollen, überfällt sie in einem Moment offenen Hasses zugleich Lust, und als sie auf dem zerwühlten Bett wieder nebeneinander liegen, glaubt der Mann, ihren bisherigen Fehler endlich entdeckt zu haben. Der sprichwörtlich sichere Hafen sei die Ehe keineswegs, sondern «eine zweifelhafte Entdeckungsreise, eine Fahrt in einem nicht inspizierten Boot über ein feindseliges Meer anhand einer gefälschten Seekarte, und sie hatte kein besonderes Ziel, ausser dem Grab». Derartige Grübeleien sind eigentlich meistens ein Zeichen, dass die Krise über den Punkt hinaus ist, an dem es noch Hoffnung gibt. Chabons Szenen aus dem Ehe- und Familienleben der weissen Mittelschicht nähren jedenfalls den Verdacht, dass dort nur eines sicher ist: die Zerrüttung. Nicht eine Ehe oder Familie gibt es hier, die nicht gerade am Zerbrechen wäre oder es schon hinter sich hätte. Stets leben die Kinder bei einem Elternteil, zumeist den allein erziehenden Müttern, und wenn der elfjährige Timothy in der Titelerzählung auf dem Schulhof endgültig zu weit geht, weil er sich einbildet, nicht mehr nur ein Samurai, Androide, Bulldozer oder Titanum-Man zu sein, sondern als Werwolf um sich beisst – so versucht sein Mitschüler Paul die hilflose Bestürzung der Pädagogen zu nutzen, um die eigenen Eltern irgendwie wieder zusammenzubringen. Illustrieren diese Erzählungen also nur noch einmal die Scheidungsstatistiken, um ihnen etwa die Erklärung nachzureichen, dass im Zeitalter sogenannter Patchwork-Biografien die Kehrseite der allseits geforderten Mobilität ein emotionales Nomadentum sein könnte, das eben zu solchen Stückwerk-Familien führt? Sicherlich, die meisten von Chabons Figuren gehören zu jenen Thirty-Somethings, denen Patchwork-Muster allenthalben vertraut sind – und sei es durch ihre von der 68er Zeit geprägten Eltern. Trotzdem sind diese Erzählungen keineswegs familien- oder gar generationssoziologische Fallstudien. Allenfalls bilden sie für Chabon den Ausgangspunkt, um eine viel hintergründigere Frage durchzuspielen: wenn es den sicheren Hafen nirgends gibt und nur sehr unzuverlässige Gefährte, um die Abenteuer auf diesem «feindseligen Meer» zu bewältigen – wie steht es dann eigentlich mit einer Kunst, die unter solchen Voraussetzungen zumindest ebenso notwendig ist wie das Navigieren: mit der Kunst des Scheiterns? Vademecum des Scheiterns Die List dieser Erzählungen liegt darin, der amerikanischen Attitüde, nur den Erfolg gelten zu lassen und vom Scheitern notorisch nichts wissen zu wollen, den Spiegel genau da vorzuhalten, wo er sich nur schwer ignorieren lässt: im unmittelbaren Nahbereich des eigenen Liebes-, Familien- und Gefühlslebens, wo alle ihre Erfahrungen machen müssen und nichts ihnen helfen kann als diese Kunst. Chabons Erzählungsband ist ein kleines Vademecum des Scheiterns, und zwar eines, in dem sich – und das wiederum ist überaus amerikanisch gedacht – in den unendlich subtilen Grauabstufungen dieses amerikanischen Albtraums auch das Produktive, geradezu unverzichtbar Nützliche am Scheitern zeigt. Das gilt, wenngleich in einem fast tragikomischen Grenzfall, sogar für den bankrotten Optometristen Eddie Zwang, der in der Erzählung «Mrs. Box» nach gerade besiegelter Scheidung auf der Interstate 5 mit einer Ladung gestohlener optischer Geräte unterwegs in ein neues Leben ist. In Portland, Oregon, folgt er, vom Kummer getrieben, der sentimentalen Eingebung, die Grossmutter seiner Ex-Frau zu besuchen. Die Talsohle des Scheiterns erreicht er, als er der alten Dame ihre Juwelen zu stehlen versucht. Zwar stellt er im letzten Moment die Schatulle wieder zurück, um doch lieber den Rest seiner Selbstachtung zu behalten – aber exakt in dem Moment, als kurz darauf seine Ex-Frau bei ihrer Grossmutter anruft, muss er aus dem Fenster ohnmächtig zusehen, wie sein Auto mit den allerletzten Überresten seines früheren Lebens gestohlen wird. So tief wie an dieser Endstation muss der Fall nicht immer führen, bis Chabons Figuren auf die stillen Reserven an Widerstandskraft in ihren scheiternden Existenzen stossen, wenn «das Unglück mit ihrer Unkenntnis der eigenen Herzen» seine unergründlichen Spiele treibt. Die Momente jedenfalls, in denen ihnen manchmal nur kurz aufblitzend oder auch diffus ein Licht darüber aufgeht, sind von Chabon unscheinbar wie kleine Abweichungen ins regelmässige Muster des Scheiterns graviert. Aber für einen emphatischen Ausdruck wie «Wahrheit» lässt die subtile Nüchternheit von Chabons Erzählungen auch wenig Raum. Es gibt keinerlei Hinweise, was aus Eddie Zwang in seiner grotesk aussichtslosen Lage oder aus dem Paar werden wird, das nach der seltsamen Besichtigung der Villa findet, dass sie perfekt für sie geeignet sei. Und auch bei der unfreiwillig entstehenden Familie der Frau, die das Kind ihres Vergewaltigers zur Welt bringt, bleibt das unklar, obwohl ihr Mann, der sie nach diesem Entschluss verlassen hat, bei der Geburt doch wieder zur Stelle ist. Nur eines ist deutlich: Erfolg ist zwar eine grosse Verheissung, aber, aus der Nähe betrachtet, ganz aus Scheitern gemacht.