Mystiker des Wohnblocks Mircea Cartarescus Erzählzyklus «Nostalgia» In der Phantasie ist alles möglich, man muss ihr nur freien Lauf lassen. Zum Beispiel: Novalis und Cortázar begeben sich nach Bukarest, vermutend, dass dort ein echter Vampir zu treffen sei; statt dessen stossen sie auf einen Riesen, der Borges plagiiert und das Aleph in einem Schuppen versteckt. Kafka aber krabbelt als Spinne im Bücherregal herum, und auch Rilke und Poe und E. T. A. Hoffmann kommen irgendwann vorbei. Derweil sitzt der Vampir, der ihnen allen eine Falle stellen wollte, in besagtem Schuppen und schreibt auf seiner «Erika»-Schreibmaschine alles genau mit, um es nachher unter dem Pseudonym Mircea Cartarescu zu veröffentlichen. Auf diese Weise könnte man sich die Entstehung eines Buches namens «Nostalgia» einigermassen plausibel erklären. Aber es ist wahrscheinlich auf die ganz normale Art entstanden: dass sich eben einer für die schwarze Romantik und Borges‘ Labyrinthereien und vielleicht auch Cortázars Rayuelas begeistert; dass er sich an seine Schreibmaschine gesetzt und aus seinen eigenen Phobien und Obsessionen phantastische Geschichten mit Liebe und Ekel, Sehnsucht und Tod, Spinnen und Monstern hergestellt hat. «Nostalgia» ist ein Erzählzyklus des hierzulande bisher unbekannten rumänischen Autors Mircea Cartarescu. Vielleicht ist es auch kein Zyklus, sondern einfach ein Erzählband, der sich dank der irgendwie logischen Anordnung – am Anfang schreibt ein Sterbender, am Schluss ein offenbar Überlebender der Apokalypse – durchaus zyklisch lesen lässt: vom Ende zum Anfang und wieder zum Ende, das wieder einen Anfang in sich trägt. Das Kernstück des Buches aber sind Erinnerungen, exaltierte, mystisch überhörte und traumhafte Erinnerungen, getaucht ins zitternde Licht der Nostalgie. Die drei Erzählungen aus dem Mittelteil des Buches (eingerahmt von einem Prolog und einem Epilog) drehen sich um Kindheit, kindliche oder pubertäre Liebe, geschlechtliche Neugier; und alle sind Huldigungen an die schreckliche Schönheit und herrlichen Schrecken jugendlicher Phantasie. Kinder denken magisch. Was aber kann magisch gewesen sein an einer Kindheit im sozialistischen Plattenbau der sechziger Jahre? Man kann sich die Entstehung von «Nostalgia» auch so erklären: dass einer in den zementenen Ritzen einer verbauten Wohnanlage nach Geheimnissen sucht. Mircea Cartarescu ist der Mystiker der Wohnblocks. Eines der Geheimnisse, die er offenbart, ist das der Menschwerdung der Literatur: ein Mysterium, das kurz und schlicht REM heisst. REM ist der Brennpunkt, in dem alles seinen Anfang nimmt, indem Zeit und Raum und Grenzen und Realität sich in einem Punkt treffen und damit ihre Wirksamkeit einbüssen. REM ist die nostalgische Variante des Borgesschen Aleph; REM befindet sich am Ende einer Serie von Träumen, die von einer kindlichen Jungfrau am Stadtrand von Bukarest unter Anleitung eines spinnenhaften Riesen geträumt werden. REM ist eine Kammer in einem Schuppen, in der ein Schreibtisch steht, an dem ein Mann sitzt, der eine Geschichte schreibt, die von einem Mädchen handelt, das systematische Träume träumt. Der Mann an der Schreibmaschine sieht haargenau aus wie Mircea Cartarescu. REM ist der Teil eines Namens auf einem abgerissenen Kunstplakat. So begegnet ein Geschöpf seinem Schöpfer. Da Cartarescu zwar ein Mystiker ist, aber dabei trotzdem ordentlicher Realist, liest sich diese hochbedeutsame Begebenheit ganz und gar nicht weihevoll, sondern ziemlich erdnah mit Staub und Gerüchen und Müll; und so farbig wie eine schrill kolorierte Postkarte. So, wie einem billiges Spielzeug erscheint, das man als Erwachsener in einer verstaubten Bodenkammer findet. «Erinnerung der Erinnerungen, ist das REM vielleicht die ‹Nostalgie.› Und für diese gibt es eine saubere, des Romantikers würdige Definition: «ein Gefühl, ein banges Herzstocken angesichts des Ruins aller Dinge, angesichts dessen, was war und nie wieder sein wird». Eine Schmuddelecke zwischen Industrieanlage und Aufgang 1 «wird einem Haufen Rotznasen zum Berg der Verkündigung: «Im tiefen Schatten der Abenddämmerung konnten wir kaum noch den Glanz in unseren Augen sehen. Über die Mühle war der Himmel indigofarben, weit in der Ferne schimmerte ein roter Stern. Es war der Stern auf dem Scinteia-Haus.» Bei solcher Beleuchtung, der unabdingbaren Voraussetzung für romantische Szenarien, bekommt der Wohnblock endlich die magische Aura; und so ergeht die «Offenbarung, eingehüllt in den strengen Duft der Fiktion», an einem Bukarester Sommerabend aus dem Mund eines Siebenjährigen: «Es gibt vier Arten von Menschen: die Ungeborenen, die Lebenden, die Gestorbenen und jene, die weder geboren noch am Leben, noch auch gestorben sind. Das sind die Sterne.» Es sind, könnte man mit dem Wissen des erwachsenen und erfahrenen Lesers hinzufügen, Hirngespinste, Geister, Götter, Monster – kurz: literarische Wesen. Cartarescus Figuren haben dieses überirdische Format. Auch wenn sie in noch so miesen Wohnungen leben und noch so sehr vom Unglück heimgesucht sind, besitzen sie so etwas wie dämonische Grösse. Der schreibende Mystiker, der Demiurg in seinem REM liebt kein Mittelmass. Überhaupt kein Mass, eigentlich. In der letzten Erzählung («Epilog») sprengt der erfinderische Geist eines Architekten alle, aber auch alle Grenzen; was in einem vor dem Wohnblock geparkten Kleinkraftwagen beginnt, endet unter Sphärenklängen mit dem Untergang unserer Galaxie und der Geburt einer neuen. Welcher die Galaxien überschauende Erzähler in gemächlichem Imperfekt von diesem Ereignis berichtet, wird nicht gesagt. Es liegt nahe, dass es sich um den Kerl im Lagerschuppen handelt. Im übrigen aber ist, laut Cartarescu, ein Erzähler ein spinnenartiges Wesen, das auf Bücherregalen sitzt und ahnungslosen Menschen ihre innersten Geschichten aussaugt. Und auch der Schriftsteller selber ist vor ihm nicht sicher. Katharina Döbler
— Dieser Text bezieht sich auf eine vergriffene oder nicht verfügbare Ausgabe dieses Titels.