Sie sind kaum noch zu zählen, die Berlinbücher. Seit zehn Jahren bricht die publizistische Flut über Buchhandlungen und Leser herein, kaum ein Verlag, der da nicht mittun wollte. Und ein Ende ist nicht abzusehen, denn Berlin ist in, der Rest der Republik nur Provinz in den Augen vieler. Nun ist ein schmales Büchlein vom Wiener Picus Verlag hinzugekommen, der sich mit solchen Lesereisen durchaus schon einen Namen gemacht hat. Evelyn Roll, studierte Politologin, ist die Autorin. Geschrieben hat sie ihre Berliner Beobachtungen im Laufe von sechs Jahren, die meisten sind bereits in der Süddeutschen Zeitung erschienen. So ist kein durchgängig komponierter Berlintext zu lesen, sondern einzelne Stücke zu Verschiedenem: Wir begegnen selbstverständlich den Bonnern und ihren Schwierigkeiten mit der Stadt, begleiten die Autorin auf einer Bootsfahrt durch Berlin, die führt am Reichstag vorbei und so ist auch diesem ein Text gewidmet, ebenso einem Golfplatz mitten in der Stadt und einem Kloster. Von solchen touristischen Nebenplätzen geht es dann wieder in das historische Zentrum Berlins — zum berühmten Hotel Adlon und so fort. Es gibt wirklich interessante Geschichten, die von den barmherzigen Schwestern, die sich freiwillig hinter die dicken Mauern des Klosters im Westend begeben haben, gehört zweifellos dazu. In knappen und genauen Sätzen hat Roll diese eigenartige Welt eingefangen. Auch der spannende Bericht über die letzten Kriegstage und eine junge Frau, die ihr Leben riskiert, um Leben zu retten, gehört zu den einprägsamen Abschnitten in diesem Buch. Andere Texte hingegen sind typische journalistische Gelegenheitsarbeiten, wie man sie in der Zeitung gerne gelesen und dann wieder vergessen hat. Ohnehin ist nicht die Reportage, der Blick auf das lebendige Leben, Rolls Stärke, sondern eher das Aufspüren dessen, was sich dahinter verbirgt: deutsche Geschichte — und die findet sich in Berlin wie bekannt an beinahe jeder Ecke und hinter jeder Hausmauer. –Holger Heimann