Tyrannei der Intimität upj. Man schrieb das Jahr 1924, als der damals 32-jährige Soziologe Helmuth Plessner eine für die intellektuelle Tradition in Deutschland zumindest ungewöhnliche Aufwertung der Gesellschaft unternahm. Denn die «Grenzen der Gemeinschaft», so der sprechende Titel des Werkes, richteten sich mit einiger Polemik gegen die damals erstarkenden Gemeinschaftsrituale sowohl der kommunistischen wie auch der radikalnationalen Jugendbewegung. Mit seiner «Kritik des sozialen Radikalismus» – so der Untertitel – wandte sich Plessner gegen politisch organisierte Seelengemeinschaften, die die menschlichen Erlösungshoffnungen fütterten, indem sie die Intimität zum Normaltarif erklärten. Eine funktionierende politische Öffentlichkeit hingegen sei, so Plessner, auf die Rituale der Distanz, auf «Takt», «Diplomatie» und «Zeremonie» angewiesen, diese wiederum seien Formen der Gesellschaft. – Dem Buch war nach seinem Erscheinen nur wenig Aufmerksamkeit beschieden, obwohl Ferdinand Tönnies und Siegfried Kracauer kurze Rezensionen schrieben. Erst ab den 1980er Jahren werden die «Grenzen» ausführlich diskutiert, und zwar kontrovers. Die einen Interpreten wollen ein «brisantes Textkontinuum» zwischen dem frühen Plessner und Carl Schmitt sehen, andere wiederum werten Plessners Buch als eine frühe Kritik der «Tyrannei der Intimität» (Richard Sennett). Der anzuzeigende Band versammelt fünfzehn neue Beiträge zu Plessners «Grenzen» (Axel Honneth, Andreas Kuhlmann, Karl Otto Hondrich u. a.). Im Anhang finden sich zudem die vier Originalrezensionen aus den mittleren 1920er Jahren.