Ist die soziale Solidarität am Ende? Gängigen Zeitdiagnosen zufolge wird „Solidarität“ in der modernen Gesellschaft mehr und mehr zu einer knappen Ressource. Kulturelle und strukturelle Wandlungsprozesse wie Individualisierung und Pluralisierung von Lebenslagen und damit einhergehende Veränderungen auf der Ebene der Wertorientierungen stützen die These, dass die soziale Solidarität einem schleichenden Erosionsprozess ausgesetzt ist.Vor diesem Hintergrund scheinen wohlfahrtsstaatliche Sicherungssysteme, die solidarisch finanziert werden und ein entsprechend hohes Maß an interpersonellen Umverteilungen bewirken, der Gefahr einer Delegitimierung ausgesetzt. Denn ihre Konstruktionsformen entsprächen dann nicht mehr den dominanten Interessen und Wertorientierungen ihrer individualistischen und nutzenmaximierenden Adressaten.Jenseits solcher stets spekulativen Globalannahmen betrachtet Carsten Ullrich anhand des konkreten Beispiels der Gesetzlichen Krankenversicherung die Sol idaritätsbereitschaft von Versicherten. Er geht der Frage nach, ob sich in diesem Bereich die entsprechenden Entsolidarisierungs- und Delegitimisierungsprozesse beobachten lassen oder ob die institutionell bedingten Solidaritätsanforderungen nicht vielmehr durch eine komplementäre Solidarkultur gestützt werden.Auf der Basis qualitativer Interviews untersucht er in einem deutungsmusteranalytischen Verfahren die Wahrnehmungen, Interpretationen und Handlungsorientierungen der Versicherten im Hinblick auf ihre Solidaritätsbereitschaft in der Gesetzlichen Krankenversicherung (Unterstützung für Versicherte mit höherem Bedarf oder geringerem Einkommen).Die Ergebnisse seiner Analyse zeigen, dass Solidaritätsbereitschaft entgegen verbreiteter Vermutungen in sehr hohem Maße vorhanden ist. Darüber hinaus verdeutlicht der Autor, dass sich die solidaristischen Handlungsorientierungen der Versicherten nicht auf einfache Dichotomien von Handlungstypen, wie beispielsweise solidarisch versus egois tisch, rational versus unreflektiert, reduzieren lassen. Die insgesamt sehr deutliche Bereitschaft zur Solidarität im Rahmen der Gesetzlichen Krankenversicherung führt er vielmehr auf die vielschichtige Kombination unterschiedlicher Interessenmotive und Wertüberzeugungen zurück. Dabei erweisen sich vor allem stark generalisierte und nicht auf reziproke Verteilungsformen beschränkte Reziprozitätsvorstellungen sowie eng kontextuierte Gerechtigkeitsnormen als geeignet, Solidaritätsbereitschaften zu erzeugen und zu erhalten.