„Die Erziehungswissenschaft ist ihrem Anspruch nach Aufklärung und Bildung hinsichtlich veganer Lebensstile bisher nicht nachgekommen“, doch vorausgesetzt, dass „Erziehung dem Menschen bei der Bildung und Entfaltung von Identität helfen“ solle, könne sie die Existenz von Vegetariern und Veganern nicht länger ignorieren, insbesondere die von Kindern und Jugendlichen, deren Identität noch wenig gefestigt sei. Pädagogisches Handeln im Sinne einer Akzeptanz veganer Lebensstile setzt aber Kenntnisse voraus, die die Verfasserin in ihrer Studie bereitstellt. So umfasst der erste Teil eine Erörterung der Zusammenhänge von Identitätsbildung, Lebensstilentwicklung und Bildung vor dem Hintergrund fortgeschrittener gesellschaftlicher Individualisierung auf der Basis der wissenschaftlichen Literatur. Die von der Autorin festgestellten Gemeinsamkeiten der von ihr interviewten Veganer lassen sich unter dem Begriff des veganen Lebensstils zusammenfassen, der we-sentlich in der Ablehnung tierlicher Produkte, der Ausbeutung von Tieren, der Entwicklung von Strukturen zur Erreichung dieser Ziele und einer eigenen Symbolik und Sprache (z.B. des V-Labels und der Verwendung des Adjektivs „tierlich“ statt „tierisch“) besteht, wobei dieser Lebensstil zumeist aus einer vorangegangenen vegetarischen Lebensweise entwickelt wurde. Aufgabe der Erziehungswissenschaften wäre es, die Bedeutung des veganen Lebensstiles für die Identitätsbildung insbesondere bei Kindern und Jugendlichen zu erkennen, ein realitätsgerechtes Bild der Gesellschaft auch im Hinblick auf den Umgang mit Tieren zu vermitteln, um die Bildung eigener Wertvorstellungen zu ermöglichen und den Prozess der Identitätsbildung zu stützen und sozialer Ausgrenzung entgegenzuwirken. In einem weiteren Abschnitt ihrer Arbeit erläutert die Autorin die Begriffe Vegetarismus und Veganismus und stellt ihre historische Entwicklung dar sowie die wesentlichen Motive zur Entwicklung der vegetarischen/ veganen Lebensweise. Diese Zu-sammenhänge sind den Lesern dieser Zeitschrift sicher im Großen und Ganzen vertraut, den Lesern aus dem pädagogischen und sozialwissenschaftlichen Bereich wahrscheinlich nicht, so dass diesen hier wichtige Basisinformationen über ethisch-moralische wie auch religiöse, ökologische, ökonomische und gesundheitliche Aspekte, die die Entscheidung für einen veganen oder vegetarischen Lebensstil beeinflussen können, vermittelt werden. Angesichts der verbreiteten Wahrnehmung veganer Lebensstile als Luxusproblem einer sonst krisenhaften Gesellschaft („diese Probleme möchte ich auch mal haben“) erscheinen die Hinweise auf die breite und sehr weit zurückreichenden religiösen Traditionen besonders wichtig. Die zweite Hälfte der Studie präsentiert die Auswertung der 14 qualitativen mündlichen Interviews und der 150 schriftlich beantworteten Fragebögen, erhoben 1997/98. Die empirische Basis der Studie besteht in 14 mündlichen Interviews und 150 schriftlich beantworteten Fragebögen, die die Verfasserin im Hinblick auf die Bedeutung der vegetarischen/ veganen Lebensweise für die Identität der Befragten, ihre Motive, die Reaktionen der Umwelt, den Umgang hiermit und die praktischen Schwierigkeiten der Umsetzung untersucht. Ein wichtiges Ergebnis ist die ganz überwiegend ethische Motivation für die vegetarische/ vegane Lebensweise, ihre zentrale Bedeutung für das Selbstverständnis der Befragten, der Einfluss von Informationen aber auch von vegetarisch/ vegan lebenden Personen im Umkreis und die Tatsache, dass die meisten Veganer zuvor vegetarisch gelebt haben. Sehr bedenklich sind die von vielen Befragten mitgeteilten negativen, von mangelndem Verständnis zeugenden Reaktionen der Umwelt, was u.a. dazu führt, dass ein Teil der Befragten den eigenen Lebensstil und die eigene Überzeugung zumindest hin und wieder verheimlicht, und dies sogar verstärkt mit zunehmender Dauer ihrer Lebensstilpraxis. Hier sind die Erziehungswissenschaften gefordert, die sich in anderen Zusammenhängen gegen Ausgrenzung und Diskriminierung wenden und insbesondere im Hinblick auf Jugendliche eine „Kultur der Anerkennung“ fordern. Im Bezug auf vegetarische und vegane Lebensstile finden sich – wie auch den Befragten vielfach aufgefallen ist – sehr häufig diskriminierende und ausgrenzende Darstellungen in Massenmedien, insbesondere in den bei Jugendlichen beliebten Fernsehserien. Eine kritische Anfrage richtet die Autorin an Unterrichtsmaterialien, die oft scheinwissenschaftliche oder werbende Aussagen für Fleisch- und Milchkonsum enthalten, und Kinderbücher, die häufig die Lebensrealität von Tieren in der Landwirtschaft als Idylle darstellen, sie weist allerdings auch auf positive Beispiele hin. Die Doppelmoral im Bezug auf Tiere, für die Kinder und Jugendliche einerseits Gefühle der Verantwortung und Empathie entwickeln sollen, aus denen sie aber andererseits keine Konsequenzen ziehen dürfen, ist ein Problem, dem sich Schule und Erziehungswissenschaften bisher nicht gestellt haben, obwohl dieser Widerspruch die Entwicklung von Wertbezügen und moralischem Empfinden und Handeln selbst in Frage stellt. Es ist das Verdienst der Autorin, die Erziehungswissenschaften als berufene Instanz darauf hingewiesen zu haben, dass es hier nicht nur um die Frage der Anerkennung individueller Lebensstile und Identitäten geht, sondern um die Frage der Vermittlung und Anerkennung ethischer Werte im Bildungsprozess überhaupt. Prof. Dr. Wolfgang Karnowsky