Wer den Geruch noch in der Nase hat, der einen zu DDR-Zeiten beim Besuch von Bitterfeld überfiel, wer über die Autobahn von Dresden nach Bautzen holperte, den Zustand der verfallenden Innenstädte betrauerte und auf den Telefonanschluss fast so lange wartete wie auf ein Auto, der wird auf die Frage, wie es denn jetzt gehe, antworten: Gut, aber … Michael Jürgs geht nicht nur den täglichen Verdrießlichkeiten nach, er schreibt Geschichten über Menschen und ihr Leben – im wiedervereinigten Deutschland. Jürgs hat Gewinner im Blick und Verlierer. Er stellt Persönlichkeiten vor, die in den dramatischen Monaten der Jahre 1989 und 1990 viel riskiert, manches erreicht und einiges verloren haben: Arbeit, Freunde, Ideale. „Ich fand fröhliche Gewinner und traurige Verlierer, wachsame Träumer und verbohrte Ewiggestrige …“ Jürgs ist ein kluger Beobachter und ein guter, unideologischer Schreiber. Und so kehren sie alle in diesem Buch wieder: Protestler und Bürgerrechtler, Schriftsteller und Musiker, fleißige Aufbauhelfer, Konjunkturritter und Profiteure, politisch Tätige aller Parteifarben, von denen es eine ja sogar zur Bundeskanzlerin gebracht hat. Bitterfeld, die einstige Dreckschleuder, hat heute nicht nur eine Solarzellenfabrik mit 1.500 Arbeitsplätzen, sondern auch einen neuen, sauberen Chemiepark mit 400 kleinen Unternehmen. In der Lausitz wurden aus Braunkohlegruben Erholungsgebiete mit Grün, Wasser und Freizeitangeboten. Viel Geld ist aus dem Westen geflossen für ein umfassendes Telefonnetz, neue Straßen und die Sanierung der Städte. Doch es gibt, und das macht Jürgs deutlich, Landstriche, die mit hohen Arbeitslosenzahlen und deutlicher Überalterung auf der Kippe stehen. Zu spüren ist Resignation, zu sehen sind neue Nazis, alte Stasi- und Armee-Seilschaften. Der Autor zieht eine kritische, aber keine traurige Bilanz. Er glaubt, dass die Kinder der Einheit, die beim Mauerfall vier oder fünf Jahre alt waren, die real existierenden Unterschiede zwischen Ost und West als so real wahrnehmen wie die zwischen Nord und Süd. Und die gibt es schon lange. — Hans Jürgensen, Literaturtest