En famille «Olgas Haus»: Erzählungen von Ljudmila Ulitzkaja Von Dorothea Trottenberg Die Autorin scheint ihr Handwerk zu verstehen: Mit Ljudmila Ulitzkaja – so konnte man immer wieder lesen – kehrt das Erzählen in die russische Literatur zurück. Sie wurde als neue Stimme bezeichnet, ihr Werk als «Erzählwunder» gepriesen. Dabei ist das, worüber sie erzählt, höchst simpel; die immer gleichen Ingredienzen ihrer Geschichten sind alltägliche Probleme von Beziehungen, von Liebe, Ehe und Familie. Der Roman «Medea und ihre Kinder» war eine Familienchronik von der Krim, «Sonetschka» ein Kabinettstück über die Ehe einer versponnenen Bibliothekarin, und auch «Ein fröhliches Begräbnis» erzählte im Grunde von einer Familie, nämlich von einer Gruppe russischer Emigranten in New York. Die konsequente Beschränkung auf das Universum des Privaten ist für Ulitzkaja Programm: «Ich beschreibe seltsame Menschen und persönliche Probleme. Zwar begreife ich die Menschen auch als gesellschaftliche Wesen, ich bin aber vor allem daran interessiert, wie es ihnen gelingt, gesellschaftlichem Druck auszuweichen», erklärte sie 1994 in einem Interview. Frauengeschichten Auch die zwölf Geschichten in dem neuen Erzählungsband «Olgas Haus» bilden hier keine Ausnahme. Wieder führt Ulitzkaja uns russisches Familienleben vor – oder vielmehr das, was davon übriggeblieben ist. Familiengeschichten sind bei dieser Autorin fast immer Frauengeschichten, soviel hat schon der 1994 auf deutsch erschienene erste Erzählungsband gezeigt. Dessen «Zarte und grausame Mädchen» sind mittlerweile erwachsen geworden, die Frauen in «Olgas Haus» allerdings auch um einige Illusionen ärmer. Da gibt es die attraktive Olga aus der Titelgeschichte, die ihrer Amour fou zu dem schönen Jüngling Kasijew frönt. Als sie entdeckt, dass Kasijew auch ihre unansehnliche Tochter mit seiner Zuneigung beglückt, zerbricht sie daran. «Pikdame» erzählt von der 60jährigen Augenärztin Anna, die mit Mutter, Tochter Katja und Enkelin Lena in einer Wohnung lebt. Die Mutter ist eine verzogene alte Frau, die Anna tyrannisiert und mit pikanten Details aus ihrer an Liebhabern reichen Biographie traktiert. Liebschaften ihrer weiblichen Nachkommen dagegen versteht sie geschickt zu hintertreiben – «weder Anna noch Katja oder Lenotschka wäre eingefallen, auch nur den bescheidensten, unscheinbarsten Mann ins Haus zu bringen». Als eines Tages Annas Ex-Mann wieder auftaucht, beschliesst sie, sich zum erstenmal im Leben über einen Befehl ihrer Mutter hinwegzusetzen, stirbt aber, bevor es soweit kommt. Zu kurz Gekommene Ulitzkaja variiert immer wieder ähnliche Motive: den reinen Frauenhaushalt etwa, in dem Ehemänner und Väter, soweit existent, nur ein Gastspiel geben, die in ihrer symbiotischen Enge fatale Mutter-Tochter-Beziehung, vor allem aber die unendliche Duldsamkeit der in tradierten Strukturen verhafteten Frauen. Zuhauf werden Ulitzkajas Geschichten von verblühten, verhärmten, zu kurz gekommenen Gestalten bevölkert, die paradoxerweise aber weder mit ihrem Schicksal hadern noch in Larmoyanz verfallen. Im Gegenteil: Natalja aus «Ein langes, langes Leben», deren Mann sie wegen ihrer übergrossen Anhänglichkeit an ihre Eltern verlassen hat, «war keineswegs traurig über ihre Ehelosigkeit». Und die bettelarme Asja, die von ihrer Cousine mit Geld und abgelegten Kleidern unterstützt wird, ist am glücklichsten, wenn sie alles einer noch ärmeren Freundin weiterschenken kann («Die arme Verwandte»). Die Frauen haben ihre schäbige Idylle mit dem Firnis der Selbsttäuschung überzogen und sich in ihrem Fatalismus zufrieden eingerichtet. «Das Glück ist wie der Wind, es kommt und geht ohne Rechenschaft», philosophiert die dicke Wäschefrau Antonina in der Erzählung «Liebling», als der kultivierte, weltläufige Professor Romanowitsch sie heiraten will, um so seine Zuneigung zu ihrem zarten halbwüchsigen Sohn ausleben zu können, «ich weiss gar nicht, womit ich das verdient habe.» In diesen Miniaturen zeigt Ulitzkaja ihre erzählerische Stärke: eine geschickt dosierte Mischung aus liebevoll-genauer Beobachtung und nachsichtiger Ironie. Letztere setzt sie in Form von Metaphern oder spöttischen Seitenhieben meist dann ein, wenn die Erzählungen ins Rührselige zu kippen drohen – ohne aber die Figuren der Lächerlichkeit preiszugeben. Unversehens wird dann auch klar, warum diese Frauen sich ihre Lage schönreden: Sie richten sich in der für sie besten  – weil einzig möglichen – aller Welten so gut ein, wie es eben geht. Und damit sind Ulitzkajas Familientableaus immer auch gesellschaftliche Momentaufnahmen, die bei aller vordergründigen Ausblendung dieses Bereichs mehr entlarven als vielleicht beabsichtigt.
— Dieser Text bezieht sich auf eine vergriffene oder nicht verfügbare Ausgabe dieses Titels.