Irrlauf der Vernunft Primo Levi als gescheiterter Ironiker Auf der letzten Seite von «Die Atempause» beschreibt Primo Levi einen Traum, der ihn immer wieder heimsucht. Er sitzt mit seiner Familie am Tisch, er ist bei der Arbeit, oder er geht durch eine blühende Landschaft. Plötzlich zersetzt etwas die Ruhe und den Frieden, alles stürzt ins Chaos, Levi findet sich allein inmitten eines «grauen wirbelnden Nichts» wieder, aus dem ein Wort erklingt, «ein einziges Wort, nicht befehlend, sondern kurz und gedämpft. Es ist das Morgenkommando von Auschwitz, ein fremdes Wort, gefürchtet und erwartet: Aufstehn, Wstawac.» 42 Jahre lang hat Primo Levi diesem Traum standgehalten, um dann doch dem Grauen der wiederkehrenden Erinnerungen zu erliegen. Heute vor zehn Jahren nahm er sich in Turin das Leben. Getrieben vom Verlangen, den Verschonten das Unvorstellbare zu erzählen, schrieb Levi unmittelbar nach seiner Befreiung aus Auschwitz «Ist das ein Mensch?» – ein Buch, das in seiner Verbindung aus analytischer und erzählerischer Genauigkeit eine Intensität und Dichte erreicht, die seither von keinem anderen Werk der sogenannten KZ-Literatur übertroffen wurden. Um die Erfahrungen des Lagers und des Krieges drehen sich auch viele seiner späteren Bücher. Dennoch erschöpft sich Levis Œuvre nicht in der autobiographischen Schilderung des Lagers und in der Reflexion über die Mechanismen des planmässig vollzogenen Massenmords. In den 1966 und 1971 erschienenen Erzählbänden «Storie naturali» und «Vizio di forma» zum Beispiel schlägt Levi überraschenderweise einen anderen, ironischen Ton an, dem er selber allerdings zunächst misstraute. «Storie naturali» veröffentlichte er unter einem Pseudonym, um die Geschichten nach dessen Aufdeckung als «Scherze» zu bagatellisieren. Der Hanser-Verlag hat aus den beiden Bänden vierzehn Erzählungen ausgewählt und unter dem Titel «Das Mass der Schönheit» herausgegeben; neun davon liegen zum erstenmal auf deutsch vor. Die Grundmotive von Levis futuristisch-grotesken, oft science-fiction-ähnlichen Erzählungen sind die Entfremdung zwischen Natur und Mensch und der Irrlauf einer bar jeder Verantwortung eingesetzten Technologie, welche die Menschen zu läppischen Marionetten degradiert. In der Erzählung «Das Mass der Schönheit» entwickelt ein Grossunternehmen den «Kalometer», mit dessen Hilfe sich die menschliche Schönheit objektiv messen lässt, wonach eine Kartei aller Prostituierten mit den zugehörigen Schönheitsmassen angelegt wird; die Protagonisten in «Schutz» müssen sich mit einem Panzeranzug gegen Mikrometeoriten schützen, sprechen aber über ihre scheppernden, unbequemen Rüstungen wie über die neueste Modekollektion; in «Rote Lämpchen» wird alles in der Welt von roten Blinklichtern reguliert, auch die Geburtenrate, weshalb der Held auf die Erlaubnis eines an seiner Frau befestigten Lämpchens warten muss, um mit ihr ins Bett zu gehen; in «Auf die Stirn geschrieben» bringt eine Werbeagentur die Leute dazu, sich für Geld Reklamesprüche auf die Stirn tätowieren zu lassen. So lustig diese Beispiele sein mögen, so deutlich weisen sie auf die Schwäche von Levis Zivilisations- und Technologiekritik hin: Ihr fehlt das Abgründige, Beunruhigende und Überraschende der literarisch geglückten ironischen Negativutopie. Durch das penetrante Pochen auf die Botschaft sind die meisten dieser Erzählungen vorhersehbar und plakativ; angestrengt und effekthascherisch wirken ihre Pointen. Dass der gelernte Chemiker Levi die Schilderung naturwissenschaftlicher und technischer Vorgänge manchmal mit der entsprechenden Fachterminologie anreichert, bleibt angesichts dieses Mangels wirkungslos. Dennoch wäre es ungerecht, den Band in Bausch und Bogen zu verwerfen. Einige Erzählungen nämlich («Mnemagogien», «Richtung Sonnenuntergang») entwerfen keine einfach ausdeutbare, von eindimensionalen Karikaturen bevölkerte Maschinenwelt, sondern Szenarien, in denen sich eine nuancenreichere Komik mit existentieller Tiefe verbindet. – Der bisweilen von der italienischen Literaturkritik unternommene Versuch, in den Erzählungen Levis die Qualitäten seiner autobiographischen Werke aufzuspüren, bleibt trotz diesen Lichtblicken ein hoffnungsloses Unterfangen. Sandro Benini
— Dieser Text bezieht sich auf eine vergriffene oder nicht verfügbare Ausgabe dieses Titels.