Mit drei bisher in deutscher Sprache erschienenen Büchern, vor allem mit Der lange Marsch, hat sich der spanische Autor Rafael Chirbes den Status eines literarischen Geheimtipps erschrieben. Sein aktueller Roman mit dem Titel Der Fall von Madrid sollte dem Autor endlich und verdient ein großes Publikum erschließen. Zweifellos gehören die Werke Chirbes‘ neben denen seines Landsmannes Antonio Munoz Molina zu den wichtigsten und interessantesten spanischen Büchern der letzten Jahre auf dem deutschen Buchmarkt. Madrid am Tag vor dem Tode des Diktators Franco. Der Möbelfabrikant José Ricart wird seinen 75. Geburtstag mit einem kleinen Fest feiern — eigentlich gegen seinen Willen. Denn was sollte es zu feiern geben. Er, der sein Unternehmen im Schatten des Franco-Regimes zu etablieren wusste, sieht sein Lebenswerk gefährdet. Zwar ist viel Geld im Ausland in Sicherheit gebracht worden, doch Ricarts Haus ist nicht bestellt. Seine Frau Amelia vegetiert in geistiger Umnachtung dahin, sein Sohn Tomás weiß die Zeichen der Zeit nicht zu deuten und glaubt, alles werde schon so weiter gehen wie bisher. Immer wieder wechselt Rafael Chirbes die Perspektive. Mal sind es Familienmitglieder wie Ricart, Amelia und Tomás oder Ricarts Enkel Josemari und Quini oder Schwiegertochter Olga, aus deren Sicht von Gegenwart, Vergangenheit und einer ungewissen Zukunft erzählt wird. Dann aber auch die Gäste des Festes, wie der Geheimdienstler Arroyo, der noch in der Nacht einen revolutionären Arbeiter erschießen lässt, die Künstlerin Ada Dutruel und ihr Mann, ein Literaturprofessor, oder auch das Hausmädchen Lurditas. Eine Romanfigur fällt aus dem Rahmen — der Arbeiter Lucio, weder Familienmitglied noch Gast des Festes. Ihm bleiben der letzte Ausblick, die letzten Worte des Romans vorbehalten — bittere Worte. Rafael Chirbes gelingt in der vielschichtigen Schilderung eines einzigen Tages die fesselnde Darstellung einer Gesellschaft im Umbruch. Offen bleibt, ob diejenigen, die ihr Leben für ein „neues“ Spanien eingesetzt haben, auch die Gewinner einer freieren Gesellschaft sein werden oder ob die alten Sieger auch die neuen sind. –Linus Springer
— Dieser Text bezieht sich auf eine vergriffene oder nicht verfügbare Ausgabe dieses Titels.