Zum Flammentode gehen Witwenverbrennung und der Exotismus des Schauderns Von Axel Michaels Die Witwenverbrennung erregt Abscheu. Im Affekt aber ist dieses Phänomen, das zu Unrecht als indische Eigenheit gilt, nicht zu verstehen. Zwei Studien, von Catherine Weinberger-Thomas die eine, von Jörg Fisch die andere, geben Aufschluss. Das Fremde – es ist so schön anders und doch entsetzlich befremdlich, zieht an und schreckt zugleich ab. Das eine Mal wird es romantisiert und idealisiert, das andere Mal nur noch abgelehnt und missbilligt. Hin und her gerissen zwischen Traum und Trauma, bleibt aber ein Verständnis des wirklich Anderen auf der Strecke. Exotismus ist Verzerrung, sei es Projektion von Wünschen, sei es Abwehr von Ängsten. Denn Verstehen heisst – nach Hans Georg Gadamer – anders verstehen und nicht im Eigenen verhaftet bleiben. In letzter Zeit, so mutet es an, mehrt sich ein Exotismus des Schauderns. Lange waren die anderen, fremden Länder vor allem Paradiese und Traumwelten, wo man unter Palmen wandelt (wenn auch nicht ungestraft, wie Goethes Charlotte in den «Wahlverwandtschaften» sagt), wo sich weisse Tiger, Schneeleoparden und der Yeti gute Nacht sagen, wo die Gerüche von feinen Gewürzen und köstlichen Speisen in die Nase steigen. Immer wieder und immer häufiger ergötzt man sich heute jedoch an Geschichten, die einen schaudern machen. Begierig und sensationslustvoll saugt der Exotist auf, was er entrüstet von sich weist: Mitgiftmorde, Kindersklavenarbeit, exzessive Tötung weiblicher Föten. Auch die Witwenverbrennung ist so ein Fall. Wer davon spricht, denkt an Indien. Aber das ist schon Teil des Exotismus, wie man aus zwei neuen Büchern lernen kann: Catherine Weinberger-Thomas hat ideen- und religionsgeschichtlich die Kenntnisse über die Witwenverbrennung nachgebessert, Jörg Fisch hat umfassend wie keiner zuvor das historische Material zusammengetragen, klar argumentierend aufgearbeitet und systematisch in das allgemeine, weltweit verbreitete Phänomen der Totenfolge eingeordnet. Beide Bücher sind in klarer Sprache geschrieben, reich illustriert und verfügen über hervorragende Literaturverzeichnisse. KLISCHEES Beim Stichwort Witwenverbrennung hat man schnell ein Klischee im Kopf: Eine Frau, deren Ehegatte verstorben ist, wirft sich in fanatischer, blinder Gattentreue oder religiösem Eifer in das Leichenfeuer – oder wird gezwungen, es zu tun. Wer da von idealisierter Selbsttötung oder selbstgewähltem Freitod redet, wer gar – wie Catherine Weinberger-Thomas – Religion und Jenseitsvorstellungen als Motive für die Selbstverbrennung hochhält, dem wird entgegnet, er verkenne die sozialen Zwänge, das Witwenelend, das Frauenlos. Witwenverbrennung sei irrationale Gewalt, rohe Männerherrschaft, herzloser Zwang gegen rechtlose Frauen, bittere soziale Not. Dass die christliche Verurteilung des Selbstmordes, die Vorstellungen von einem individualisierten Jenseits, in dem der Saldo von Schuld und Verdienst erstellt wird, oder das Ideal des Märtyrertodes im Dienste einer (vermeintlich) guten Sache diese Sichtweise massgeblich beeinflussten, findet kein Gehör. Im Exotismus des Schauderns über Witwenverbrennung verdecken Bilder des sengenden Feuers jeden abwägenden Gedankengang. Wo diese Flammen lodern, wird nur noch angeklagt. Doch was heute nur Unverständnis und Grauen hervorruft, galt – nicht minder exotistisch – noch im 19. Jahrhundert als Zeichen einer wahren Liebe. So reimte 1839 Friedrich Rückert: Die erste Gattin, die mit ihres Gatten Leiche Den Weg der Flammen ging zum kühlen Schattenreiche, Hat wohl mit hohem Mut, das Vorbild sei gepriesen, die Unzertrennlichkeit von Mann und Weib bewiesen. Ähnlich schwärmte Karoline von Günderode (1780–1806), die zum Umkreis der Romantiker gehörte und nach einer unglücklichen Liebe mit dem Altertumsforscher Friedrich Creuzer ihrem Leben ein Ende setzte, in ihrem Gedicht «Die malabarischen Witwen»: Zum Flammentode gehn an Indusstranden Mit dem Gemahl, in Jugendherrlichkeit, Die Frauen, ohne Zagen, ohne Leid, Geschmücket festlich, wie in Brautgewanden. Die Sitte hat der Liebe Sinn verstanden, Sie von der Trennung harter Schmach befreit, Zu ihrem Priester selbst den Tod geweiht, Unsterblichkeit gegeben ihren Banden. So sehr wurde die Treue der indischen Frauen angehimmelt, dass für die eigenen nur Spott blieb, dichtete doch Friedrich von Logau 1875: Wenn ein indianisch‘ Mann stirbt und wird verbrennet, dann wird seines Weibes Treu‘ richtig dran erkennet, wenn sie springet in die Glut. O in unserer Welt springt kein Weib, dieweil sie sich einen anderen hält. Ob aus treuer Gattenliebe oder aus Unmündigkeit in den Selbstmord getrieben, beide Exotismen sagen mehr über den Westen aus als über Indien. Dabei sind viele Fakten seit dem 19. Jahrhundert bekannt gewesen. Noch mehr sind jetzt durch Catherine Weinberger-Thomas und vor allem Jörg Fisch in seiner präzisen «Anatomie einer Sitte», dem 12. Kapitel, veröffentlicht worden. Demnach war die Witwenverbrennung nicht nur in Indien verbreitet, sondern auch in vielen anderen Kulturen, darunter Ägypten, China, Afrika und besonders Java sowie Bali. Aber sie bildete überall eine «ausgesprochene Ausnahmeerscheinung» (Fisch), auch wenn zeitweilig in Indien jede tausendste Frau diesen Tod starb. In Indien gehörten zur Witwenverbrennung immer eine Form von Freiwilligkeit und eine besondere Todesart: der Feuertod. Die Witwe, die sich aus Trauer von einem Felsen stürzte oder sich vor einen Zug warf, galt zu keiner Zeit als die Sati («Gute, Reine»), wie man in Südasien sowohl die Sitte als auch die Frauen nennt, die sich verbrennen liessen. Blosse Selbstmörderinnen wurden nach indischem Verständnis tatsächlich zu Witwen, während die Satis mit ihrem Gatten vereint blieben. – Aber taten sie es aus freien Stücken? Die Fälle, in denen auf den rituell formulierten Entschluss der Witwe kein Zwang ausgeübt wurde, sind die überragende Mehrzahl. Wohlgemerkt: Berichtet wurde dies in der Regel von britischen Kolonialbeamten und Missionaren – nicht gerade Freunde des Brauchs. Anders verhielt es sich bei der Verbrennung selbst; da war es durchaus üblich, die Frau mit Stöcken oder Seilen zu hindern, in letzter Minute vom Scheiterhaufen zu springen. Freilich, eine Witwe, durch Verbrennungen entstellt, rituell schon tot, konnte nicht ohne weiteres in die Speisegemeinschaft der Familie zurückkehren. Ihr drohte ein Leben als Bettlerin oder Prostituierte. Auch wenn die brahmanischen Priester das religiöse Verdienst einer Witwenverbrennung priesen, so schrieben sie in ihrer umfangreichen Sanskrit-Literatur nirgends eine Verpflichtung dazu fest. Im Gegenteil, immer legten sie Wert darauf, dass die Frauen nicht anderen, zum Beispiel Kleinkindern, schadeten und dass kein Zwang ausgeübt wurde, etwa indem man ihnen Drogen verabreichte. Wäre die Witwe nur unter Zwang und gegen ihren Willen verbrannt worden, gar unter ihrem erbarmenden Schreien oder Weinen, hätten die Familien kaum das erhebliche Prestige erlangen können, das eine Witwenverbrennung für viele bedeutete. Immerhin wurde die Sati zu einer Art Göttin, der man nicht selten Tempel errichtete. Sind aber wirklich nur edelmütige, religiöse Motive ausschlaggebend gewesen? Muss nicht die Habgier der Verwandten, die auf das Erbe aus sind, ebenso berücksichtigt werden, wie politische Beweggründe es müssen, etwa eine antikoloniale Stossrichtung nach dem Motto: Wir, die Hindus, sind wahrhaft religiöse Menschen, die noch für ihren Glauben ihr Leben lassen können? Muss nicht von einer Form des Priesterbetrugs gesprochen werden, bei dem den Frauen ein besseres Jenseits versprochen wurde, obwohl es nur um selbstsüchtige Vorteile der Angehörigen ging? Fisch zeigt minuziös die Schwächen solcher Argumente auf. Entweder fehlen die Belege, oder es werden wichtige Einwände nicht berücksichtigt. So bedachte man bei der These des Priesterbetrugs nicht, dass über 40 Prozent der Satis selbst Priesterfrauen sind. Fraglos kamen zu all dem trauernden Schmerz über den Verlust des Gatten und zu den Hoffnungen auf den Erwerb religiösen Verdienstes oder Wünschen auf Ehre und Anerkennung die Drohung von Armut, sozialer Ächtung und das Verbot der Wiederverheiratung hinzu. Einen nüchternen, abwägenden und insofern wirklich frei gefassten Entschluss konnte die Witwe in diesem Bündel an Einflüssen und Faktoren nicht fällen. Auch blieb ihr Entscheid an eine soziale und geschlechtsspezifische Ungleichheit gebunden: Nur die Frau, nicht aber der Mann konnte dem Partner in den Feuertod folgen. Diese Spannung zwischen Zwang und Freiwilligkeit beschäftigt jeden, der sich dem Thema Witwenverbrennung nähert. Jörg Fisch will seine Leser aber nicht exotistisch oder voyeuristisch darin verharren lassen. Feinfühlig und scharfsinnig zeigt er auf, dass alle genannten Gründe, die eine Frau in den Feuertod treiben mögen, in 999 anderen Fällen nicht wirken: «Man kann eine Ausnahmeerscheinung nicht mit Regelphänomenen erklären», sagt er. Selbst eine statistisch berechnete Wahrscheinlichkeit erklärt nur, «weshalb es geschehen konnte, aber nicht, weshalb es tatsächlich geschah». In der Tat, es hilft weder eine exotisierende Vereinfachung noch eine kalte Faktenfülle: Jede einzelne Witwenverbrennung, von der berichtet wird, verwirrt, weil die genauen Umstände, auf die es ankäme, im allgemeinen nicht überliefert sind. Das gilt erst recht für die Zeit nach 1829, als die Briten in Indien ein uneingeschränktes Verbot erliessen. Selbst als sich 1987 unter grossem Aufsehen die erst 18jährige Roop Kunwar in Rajasthan verbrannte, konnte der genaue Sachverhalt bis heute nicht aufgedeckt werden. Meist haben apologetische und brandmarkende Positionen das Geschehen ideologisch überlagert, bevor es bekannt wird oder untersucht werden kann. EINE INSTITUTION Als gesellschaftliche und religiöse Institution ist indes die Witwenverbrennung keineswegs ungewöhnlich. Der Exotismus des Schauderns schiebt da nur weg, was zu bedenken ist und worauf Fisch und Weinberger-Thomas ebenfalls hinweisen: dass nämlich die Witwenverbrennung einzuordnen ist in Formen des Selbstmordes bzw. – um es weniger wertend zu sagen – des Freitodes; in die institutionelle Totenfolge, bei der in einem öffentlichen Akt abhängige Personen eine höhergestellte Person in den Tod begleiten; in die bekanntermassen im Hinduismus und Buddhismus ausgeprägte Askese, die ebenfalls eines Entschlusses zu einem gesellschaftlichen Tod bedarf und die als langsames Sterben bezeichnet werden kann; in andere Formen des Opfertodes oder in ein geschlechtsspezifisches Heldentum, bei dem die Frau eine Art Märtyrertod sucht, der sonst nur dem Mann «zusteht». So betrachtet verringert sich die Distanz zwischen dem Fremden und dem Eigenen. Denn mit einem Mal rücken christliche Märtyrer oder westliche Schriftsteller und Philosophen, die bewusst den Freitod wählten, unter ihnen Dostojewski und Kleist, oder Todkranke und ihre Sterbehelfer in die Nähe des beklagten Phänomens. Und vor allem: Gefeit gegen die Totenfolge ist keine Gesellschaft. Arme Seelen, die ihrem Angebeteten – sei es ein Gatte, sei es ein Guru – in den Tod folgen, finden sich nicht nur in Indien. Sie können ganz unvermittelt auch in Westschweizer Bergdörfern wie Cheiry und Granges-sur-Salvan auftauchen, wo im Oktober 1994 achtundvierzig Anhänger des Sonnentempler-Ordens sich verbrannten (oder verbrannt wurden?). Nach innen gewandt, verliert der Exotismus des Schauderns seine Wirkung. Es bleibt nur die beklemmende Bangigkeit vor dem Unfassbaren.