Da die Erde wieder eine Scheibe ist Ingo Schulzes «33 Augenblicke des Glücks» Von Sibylle Cramer «Das schmeckt aber nicht», sagt der Kellner bei der Bestellung. Natürlich wird er entlassen – und wieder eingestellt, als sich erweist, dass er nichts als die Wahrheit gesagt hat. «Aus Geschichten wie dieser», schliesst der Erzähler entzückt, «schöpfe ich jedesmal wieder Mut», 33mal, 33 Schöpfungen. Der 33jährige Ostberliner Ingo Schulze ist ein buchstabierender Lithograph. Baudelaire, der die Bedeutung des Lithographen und seines über Bibliotheken, Sammelmappen und Museen verstreuten «unendlichen Wörterbuchs des modernen Lebens» erkannte, hat ihn als Spagatkünstler zwischen Vorgestern und Moderne beschrieben. Er ist der Maler des Augenblicks. Was dann freilich auf dem Papier entsteht, erzählende Sittenbilder einer flüchtigen Zeit, ist eine epische Schilderung. Die zeitstabile Stadt der Stadtphilosophen, Stadtdramaturgen, Stadtmythologen weicht im Zeitalter der Lithographie dynamischer Stadtzeit. Aber die Zeichentechnik des Lithographen stabilisiert die Zeitflucht in traditioneller Manier. Auch Ingo Schulze löst Zusammenhänge, Einheits- und Kontinuitätsstrukturen des Stadtepos auf und verlagert das Erzählen aus der Sukzession in die Konstellation. Er erzählt zerstreut, dezentriert und flächig. Seine 33 Augenblicke segmentieren das Stadtbild. Doch die Lektüre des Ausschnitts, die dann folgt, straft die vorschnelle Zuordnung zur Gegenwartskunst der Moderne Lügen. Zustande kommt die altrussische Comédie humaine eines begeisterten Anachronisten. Seine Ouverture bindet das Bilderbuch an eine Kette von Zufällen. Der fiktive Herausgeber des Textes erhält das Manuskript von einer Mitreisenden, der es ihrerseits auf einer Reise nach St. Petersburg in die Hände gefallen ist. Aber nicht mit Zufall, Plötzlichkeit, mit diskontinuierlicher Zeit ist der Erzähler im Bund, sondern mit dem 19. Jahrhundert. Er bedient sich einer alten epischen Einrichtung russischer Erzählkunst: der Eisenbahn, traditioneller Fundort, Beförderungsmittel und dramatisches Kontrastprogramm zur Unsterblichkeit des Erzählten. Denkbilder Mussorgskys «Bilder einer Ausstellung», Baudelaires «Tableaux parisiens», Benjamins «Einbahnstrasse» sind Denkbilder, Selbstbilder, subjektive Zeitbilder, die Wahrnehmung von Wirklichkeit registrieren und den Bereich zwischen Gefühl und Gedanken erkunden. Schulze registriert, selbstfern und selbstgewiss, nichts weiter als die Wirklichkeit. Er ist ihrer und seiner Deutung sicher, kein Zweifel weit und breit: Piter ist ein Paradies. Das St. Petersburger Liebhaberobjekt wird zu einer jener anschauungsgesättigten Idyllen ausgepinselt, in denen bei verkleinertem Massstab, vergröbertem Raster und zurückgestellten Uhren noch Charaktere gedeihen, Menschen, Überlebende humaner Zeiten wie Maria. Sie verdient ihr Brot mit dem Verkauf ihres Körpers, aber sie hat Zeit für die Fremden. Sie unterhält sich mit dem Erzähler, dessen Hotel ihr Revier ist, über Lolita, die Sprache Soschtschenkos im Vergleich zu der Platonows, sie rezitiert Puschkin und Brodsky, «und ich wusste, Petersburg, das sind ihre dunklen Augen. Wie Sterne sollten sie mir über der Stadt stehen . . .» Sie stehen. Das Zeitbild des nachsowjetischen Russland wird besonnt von der Zuneigung für eine Welt, in der bejahrte Ehepaare einträchtig ineinander verliebt sind, Ober ehrlich, Prostituierte Heilige, Pförtnerinnen belesen und Sekretärinnen feierabends die Zeitungsredaktion in ein behagliches Zuhause der Mitarbeiter verwandeln. Der Deutsche, der seinen schwäbischen Arbeitgebern den wachsenden Raumbedarf seines Korrespondentenbüros begreiflich zu machen versucht, lernt auf der Relaisstation zwischen russischer Menschlichkeit und westdeutschem Rechnungswesen, dass die Schwaben längst die Eigenart russischer Arbeitsformen und Effizienz nutzen. Nichts, stellt Wenjamin befriedigt fest, hat sich seit Peters des Grossen Zeiten verändert. Um den Kirchturm schmiegen sich die Häuser, «eine Masse, in Lumpen gehüllt, aneinander sich wärmend», die Erde ist wieder eine Scheibe, Russland kehrt zu Kreuz und Altar zurück. Wenjamin, der unter den Klängen von «When the saints go marching in» aus dem Exil zurückkehrt, ist der heilige Georg futuristischer Legenden. Unter himmlischem Beistand, mit Engel und Blitz, schaltet er den «Ursprung alles Bösen» in Gestalt eines Aufsichtsdrachens mit roten Armbinden aus. Heimgeleuchtet wird ihr, der aufgeklärten Welt des dialektischen Materialismus, aber im Stile der biedermeierlichen Zauberpossen des Wiener Volkstheaters. Mit blutenden Lippen Walentina Sergejewna ist Schulzes Zeugin. Eines Tages beobachtet sie einen Besucher, der vor der Vitrine, die sie bewacht, niederkniet, dann nach vorn kippt und mit blutenden Lippen von dannen zieht, denn das Glas ist gesplittert. Innerhalb einer Woche verwandelt sich das Museum in einen Wallfahrtsort, bis die Ikone eines Tages aus eigener Kraft in die Kathedrale, aus der sie stammt, zurückwandert. Ihr Namensgeheimnis aber, ein höchst respektloses Graffito, hütet Walentina, wenn sie nicht gestorben ist, bis auf den heutigen Tag. Russische Zeit ist glückliche Zeit, meldet Ingo Schulze glücklich, das Unglück und die freudlose Gemütsverfassung seiner plötzlich in die Neuzeit gestürzten ostdeutschen Landsleute in Fernweh verwandelnd. Das Russland von damals und das Glück von heute sind sich schon einmal sinnfälliger begegnet, im Zug von Biel nach Zürich. «Glück» hiess die Geschichte aus dem «Tagebuch 1966–1971», in der Tolstois Posdnyschew aus der «Kreutzersonate» seine eigene Geschichte mit vertauschten Rollen noch einmal erlebt. Jetzt ist es der andere, der Erzähler Max Frischs, der seine Frau ermordet hat. Nur haut der Jüngere mit dem Beil daneben. Das war vor 24 Jahren.
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