Bloomsday mit Zuschauer Walter Kempowskis Medienstunde Am 16. Juni 1997 setzt sich Walter Kempowski morgens um 8 Uhr vor seinen Fernseher und beginnt zu zappen. Siebenunddreissig Programme hat er zur Auswahl, die er in sehr rascher Folge durchmustern wird. Ein Videorecorder und ein Tonbandgerät zeichnen die Mediensuada auf, die er später abtippen und in eine lesbare schriftliche Fassung bringen lässt. Die Texte zum Bild werden so ihrer Bezugsebenen beraubt, plötzlich stehen sie nackt da, als Texte für Leser, die sich nun ihre Bilder selbst machen müssen. Was dabei herauskommt, ist ein seltsames Mischprodukt. Die Texte stammeln nämlich nur noch vor sich hin, sie wirken wie irrwitzige Sprachinseln oder wie Ausgeburten einer hochgradig psychotischen Wahnsprache. Als Leser glaubt man sich in ein Geisterkabinett versetzt, es ist abenteuerlich dunkel, die Stimmen krächzen vom Band, aber man fürchtet sich nicht, weil man weiss, dass sie von einem Arrangeur entstellt und in dieses Panoptikum gezwungen worden sind. Draussen aber, im Freien, werden sie zu ihren Figuren und Bildern zurückfinden und uns nicht mehr überraschen. Zwangsmomente Kempowski hat also eine Versuchsanordnung gestartet, die durchaus experimentellen Charakter hat. Er präsentiert uns mit ihrer Hilfe Sprachen, wie wir sie wahrhaftig selten zu lesen bekommen. Es sind Sprachen, die von anonymen, wesenlosen Sprechern zu kommen scheinen und doch in sich ein Zwangsmoment haben, das alle Sprecher dazu zu bringen scheint, in peinlich hilfloser Form ein einziges Thema oder ein einziges Objekt zu umkreisen. Die ins Dunkel verschwindenden, vor sich hin murmelnden Texte wirken dadurch wie Beschwörungen, sie haben ganz und gar manischen Charakter, man könnte an Texte von Geisteskranken denken, die stotternd, an den Worten zerrend, ein uns Lesern unbekanntes Weltsystem umkreisen, das sie doch nie zu fassen bekommen werden. Als Experiment ist Kempowskis Text also interessant, denn als Experiment fordert er den Leser auf, der Entstellung von Sprache, die von der medialen Präsentation hervorgerufen wird, genauer nachzugehen und sie zu begreifen. Anhand von Kempowskis Protokoll könnte man sich zum Beispiel Gedanken dazu machen, welche Sprachformen das Zusammenspiel von Fernsehbild und Text gestaltet. Diese Sprachformen haben längst nichts mehr mit denen der Bühne gemein, die ja noch Vorbilder für die Präsentationsformen des Hörfunks waren. Im Fernsehen werden die Sätze vielmehr in erstaunlicher Weise selbstbezüglich; sie erhalten einen merkwürdig narzisstischen, weltlosen Ausdruck, der in seinen penetranten Versionen grosse Komik gewinnt. Natürlich hatte man als Fernsehzuschauer längst geahnt, was einem da täglich ins Haus serviert wird. Kempowskis Fassung macht diesen Salat aber Blatt für Blatt durchschaubar, bis hin zu den Ingredienzen. Der experimentelle Charakter des Buches könnte so zu vielen Ergebnissen führen, wenn man sich als Leser an die Grundregel bei der Lektüre von experimenteller Literatur hielte: geniesse sie nie am Stück, sondern in kleinen Rationen, immer wieder einmal! Kempowski hat es jedoch nicht bei dieser Versuchsanordnung, die streng und klar sein müsste, belassen. Er hat sie vielmehr mit einigen Zutaten versehen, die der notwendigen Strenge und Klarheit zersetzend entgegenwirken. Zunächst hat er sich für seinen Text den 16. Juni ausgesucht, also genau jenen Tag, den auch Joyce für den Handlungszeitraum seines «Ulysses» auswählte. Ein Joyce-Motto ist dem Buch vorangestellt, jeder vollen Fernsehstunde gehen Internet-Kurzfassungen von «Ulysses»-Kapiteln voraus, die man ebenso leicht entbehren könnte wie das wichtigtuerische Motto. Der ganze herbeigeliebäugelte Joyce-Bezug entspringt dem Schielen nach zusätzlicher Attraktivität. Mit dem «Ulysses» aber hat «Bloomsday» nicht das geringste zu tun. Auch andere Versuche, die Testanordnung von «Bloomsday» künstlich aufzuwerten, haben dem Buch eher geschadet. So hat es Kempowski für nötig befunden, sein Buch gleich mehrfach zu kommentieren. Er hat den Rezensionsexemplaren Ausschnitte aus einem Tagebuch beifügen lassen und, als wäre das noch nicht genug, sogar dafür gesorgt, dass ein Video die Rezensenten auch bildlich über den denkwürdigen 16. Juni 1997 informiert. Auf diesem Video sieht man Kempowski nun auf seiner Couch Platz nehmen, gelassen die Fernbedienung ergreifend. Gerafft rollen die Stunden ab, die vielen Helfer treten ins Bild, Kempowski beginnt, sich so seine Gedanken zu machen . . . Joyce-Anleihe Gerade diese Gedanken belegen, dass sich Kempowski nicht genau über sein Vorhaben im klaren war. Was eigentlich wollte er zeigen? War schon die Joyce-Anleihe ein eher hilfloser Versuch, das Projekt zu feuilletonisieren, so sind es die weiteren Andeutungen erst recht. Ihre verräterischen Nuancen haben alle damit zu tun, dass Kempowski nicht genau weiss, welche Emotionen das Fernsehen in ihm hervorlockt: Hass? Liebe? Ekel? Faszination? Unruhe? Ein schlechtes Gewissen? Wer sich dem Medium so hingibt, wie Kempowski es tut, muss aber seine Passionen forcieren. Er muss entlarven wollen oder spielen, er muss sich aussetzen oder herfallen über sein Objekt. Kempowski tut jedoch so gelassen, als beschäftigte ihn da gerade mal ein Feiertagsprojekt, das man in seinen freien Stunden hinter sich bringt, wenn einem nichts Besseres einfällt. Medienkritik? Nein, so etwas, meint Kempowski, sei es wohl doch nicht, um sich an anderer Stelle dann wieder zu beklagen, welchen Unsinn das Fernsehen uns da ins Haus bringe. Ein Dokument unserer Zeit? Nein, auch so etwas sei wohl ein Missverständnis. Die Sekretärin, die die Tonbänder abgetippt habe, soll gelacht haben, sich königlich amüsiert; als Kempowski das berichtet, nickt und lächelt er für einen Moment, als verberge sich im Amusement der Sekretärin das Geheimnis des Textes, das der Autor aber letztlich doch lieber für sich behielte . . . Dieses Geheimnis aber, über das sich Kempowski keinerlei Gedanken mehr machen wollte, liegt ganz woanders. Den Texten, die er dem Fernsehen zu entreissen glaubte, fehlt die Testfigur, das Gegenüber, der Körper des Autors Kempowski. Ohne diesen Körper sind sie lediglich experimentelles Material, das der Leser für sich selbst bearbeiten müsste. Kempowski hätte viele Wege wählen können, diesen Körper zu aktivieren. Er hätte seine Texte kommentieren, er hätte gegen sie anschreiben, er hätte mit ihnen ein virtuoses Spiel inszenieren können; in all diesen Fällen wäre er dem in «Bloomsday» nur angestarrten Medium, zu dem die Zuschauer trotz aller Medienforschung noch keinerlei eigene Sprache gefunden haben, nähergekommen. Am überzeugendsten aber wäre gewesen, Kempowski hätte kein Buch geschrieben, sondern ein Video gedreht. Auf diesem Video hätte man all die Stunden lang nichts anderes gesehen als den Schriftsteller Walter Kempowski vor seinem Fernseher; man hätte ihn zuschauen, essen, trinken, schlafen, sich wälzen, stöhnen, lachen und leiden sehen; und man hätte dazu im Hintergrund all die Stimmen gehört, die er jetzt in seinem Buch schriftlich festhalten wollte. Dann hätten diese Stimmen ihr Objekt gehabt, dann wären sie wie Hornissen über den Leib des Ausgelieferten hergefallen, und dann wäre das Experiment «Bloomsday» ein authentisches Experiment «Haus Kreienhoop» geworden. Hanns-Josef Ortheil