Der Berserker und die Unfassbare Mehr als drei Jahrzehnte sind vergangen seit dem Versuch des Präsidenten Salvador Allende, in Chile einen Sozialismus der Freiheit zu errichten, der, wie das Leben des Mannes selbst, abrupt endete. Und viele Jahre glaubten seine Anhänger an seine Ermordung statt an einen Selbstmord. Was kann die Erzählkunst leisten, wenn eine historische Wahrheit nicht vollständig rekonstruierbar erscheint? Diese Frage stellte sich die 1942 geborene chilenische Autorin Isabel Allende einige Jahre nach dem Putsch von 1973 durch die Militärjunta unter General Augusto Pinochet – und verfasste das Manuskript für „Das Geisterhaus“, dem ein Brief an ihren Großvater zugrunde liegt. Das im venezolanischen Exil geschriebene Erstlingswerk der Nichte des ehemaligen Präsidenten wurde nach seinem Erscheinen im Jahr 1982 ein Welterfolg. Monatelang führte „Das Geisterhaus“ die Bestsellerliste des SPIEGEL an. Bis heute hat sich das umfangreiche Werk allein in Deutschland weit über zwei Millionen Mal verkauft. Die Literaturkritik reagierte gespalten. „Hier ist eine Frau mit großer Erzählkunst in die Autorenelite Lateinamerikas eingedrungen“, hieß es. Auch „überwältigende Darstellungskraft“, „epische Souveränität“, „Genauigkeit und Leuchtkraft“ wurden der bis dahin unbekannten Schriftstellerin bescheinigt. Andere Kritiker aber nannten das Buch „trivialliterarisch“, „ein aussichtsvolles Debüt mit allen Unzulänglichkeiten“ oder sogar eine „Volksversion“ der berühmten Familiensaga „Hundert Jahre Einsamkeit“ von Gabriel García Márquez – gewiss das ungerechteste Urteil. Denn selbst, wenn dem Leser der ersten Kapitel „Rosa die Schöne“ und „Die Drei Marien“ einige Parallelen zu García Márquez ins Auge fallen, so hat man es bei Allendes Werk doch ohne Zweifel mit einem ganz eigenständigen Stück Literatur zu tun. „Das Geisterhaus“ ist eine bittere Abrechnung mit dem Heimatland der Autorin, mit Chile, das sich erst sieben Jahre nach Erscheinen des Romans von der Militärdiktatur befreien konnte. Es ist eine Chronik von Gewalt, Ungerechtigkeit und Vergeltung, aber auch von „Schmerz, Blut und Liebe“. Neu klang Allendes sinnlich fabulierende, eigentümlich insistierende Stimme, die auf den mitteleuropäischen Leser fast exotisch wirkte, dieser fließende, saftige Ton, die endlosen Sätze, die selbst dann ihre Leichtigkeit nicht verlieren, wenn sie von Grausamkeit, Folter und Tod berichten. Immer mit einer Spur Ironie versehen, schaffen sie es, dass der Leser auch harte Übergänge ohne Weiteres verkraftet. Man muss kein Kenner lateinamerikanischer Literatur sein, um zu durchschauen, nach welchem Muster die Autorin ihren Debütroman gestrickt hat: Aufstieg, Blüte, Niedergang, eingebettet in den gesellschaftlichen und staatlichen Verfall einer ganzen Epoche. Die für einen großen Familienroman genreüblichen Konventionen sprengt Allende also nicht. Dafür aber lässt sie in ihrer Geschichte so zahlreiche spannende und skurrile, unterhaltsame und anstößige Figuren auftreten, dass die Vorhersehbarkeit des Romanverlaufs kein bisschen stört. Aus dem pittoresken Gewimmel ragen zwei Protagonisten hervor: der skrupellose Patriarch Esteban Trueba und Clara, seine Frau Esteban ist ein zielstrebiger und kraftvoller Mann, der jedoch in seiner brutalen Triebhaftigkeit und seinem gewalttätigen Machtwillen erschreckend wirkt. „Kein Mädchen schaffte den Übergang von der Pubertät ins Erwachsenenalter“, ohne dass es sein „schmiedeeisernes Bett zu schmecken bekam.“ Truebas größte Schwäche ist die Liebe zu seiner Frau Clara. „Clara verbrachte ihre Kindheit und frühe Jugend zu Hause in einer Welt aus wunderbaren Geschichten und geruhsamer Stille, in der die Zeit nicht mit Uhren und Kalendern gemessen wurde, die Gegenstände noch ihr Eigenleben hatten, die Geister sich mit an den Tisch setzten und zu den Menschen sprachen, in der Vergangenheit und Zukunft Teil ein und derselben Sache waren und die Wirklichkeit der Gegenwart ein Kaleidoskop aus ungeordneten Spiegeln, in denen alles geschehen konnte.“ Sie ist am Ende die Person, die den herrschsüchtigen Mann bezwingt, die seinem Machthunger einerseits durch ihre verschwenderische Art zu lieben, andererseits durch ihre innere Unerreichbarkeit deutliche Grenzen setzt. Allende bemüht sich immer wieder, die Perspektive der Frauen zur Geltung zu bringen. Sei es, indem sie Claras unbeugsame Würde im Geschlechterkampf mit ihrem Mann betont, sei es, dass sie von Nívea del Valle als einer tapferen, furchtlosen Frauenrechtlerin erzählt. Die Autorin macht sich mit ihrer Geschichte zur Anwältin der Frauen, allerdings ohne feministische Schärfe. Ihre weiblichen Heldinnen tragen symbolhafte Vornamen mit ähnlicher Bedeutung: Nívea (die Schneeweiße), Clara (die Helle), Blanca (die Weiße), Alba (die Morgenröte). Sie stehen stets den Schwächeren und vom Leben Betrogenen bei. Jede für sich hadert und rangelt mit den Gegebenheiten ihrer Generation. Bewirken kann jedoch kaum eine etwas. Das gelingt in diesem sich über ein Dreivierteljahrhundert erstreckenden Epos nur Tránsito Soto, der geschäftstüchtigen, matronenhaften Prostituierten, die zunächst als Nebenfigur auftritt und schließlich gegen Ende des Romans die Schicksale der Familien Trueba und del Valle bestimmt. Sie allein kann allen Entwicklungen der Geschichte trotzen. Und geht daraus als strahlende Siegerin hervor. Allendes erzählerische Kraft ist unbestreitbar. Mit großer Souveränität verwickelt sie ihre Figuren in Extravaganzen und merkwürdige Anekdoten. Besonders auffallend ist dabei die Selbstverständlichkeit, mit der sie Magisches und Reales vermischt, ohne jede Furcht, dies auch auf Kosten der Glaubhaftigkeit zu tun. Darin liegen Stärke und Schwäche des Romans zugleich. Die anfangs noch mit einem Augenzwinkern erzählten Skurrilitäten der Figuren, sei es, dass sie wie Rosa mit grüner Haarpracht ausgestattet sind, dass sie wie Clara auf einem Stuhl durchs Haus fliegen oder wie der junge Nicolás als nackter Karatespringer auf den Straßen von Santiago herumturnen – all diese Absonderlichkeiten, so hübsch sie auch sein mögen, wirken auf manchen europäischen Leser übertrieben. Die großen Charaktere des Romans sind durchweg von maßloser Leidenschaft geprägt. Sie lieben und kämpfen ungezügelt und trotzen stets den Stürmen der sozialen und politischen Entwicklungen bis in den Tod. Für irgendwelche seelischen Verkrümmungen lässt Allende ihren Figuren dabei kaum Raum. Geraten sie auf die schiefe Bahn, wie Esteban, der nach einigen Ehejahren seine alte Gewohnheit aufnimmt und seine Lieblingsprostituierte wieder aufsucht, oder wie seine altjungfernhafte Schwester Férula, die „verquälte Seele“, die plötzlich ihre Schwägerin begehrt, so dauert dies doch nicht allzu lange. Es gibt große Erfolge, die letztlich unerklärlich sind. Im Falle von Isabel Allendes Roman ist es vor allem ihre Phantasie, die nachhaltig beeindruckt. Aber auch die Kunst des spannenden, temporeichen Erzählens. Allende hat es mit ihrem Erstlingswerk vermocht, eine Mischung zu erzeugen, die den Leser fordert, erstaunt, fesselt, ja: tief berührt. Nicht zufällig konnte der dänische Regisseur Bille August 1993 mit diesem Stoff einen Kinoerfolg feiern. Dazu verhalfen ihm die Detailliebe und die einprägsamen Figuren der Romanvorlage. Jeremy Irons als Esteban und Meryl Streep als Clara haben ihre Rollen glänzend verkörpert. Die Verfilmung bleibt so unvergesslich wie das Buch, das ihr zugrunde liegt. Nachwort von Verena Araghi zu Das Geisterhaus. SPIEGEL-Edition Band 21
— Dieser Text bezieht sich auf eine vergriffene oder nicht verfügbare Ausgabe dieses Titels.