In Margaret Atwoods neuem, irgendwo im 21. Jahrhundert angesiedeltem Roman hat die Welt gerade eine apokalyptische Katastrophe hinter sich, nachdem sie von einer Biotech-Wirtschaftsorganisation zugrunde gerichtet worden war. Dieses Unternehmen, die HelthWyzer Corporation, stellte faktisch die Regierung; die hohen Angestellten und ihre Familien lebten in verbarrikadierten Zonen, streng separiert von den Menschen der „Unterklasse“. Die Polizei war durch den privaten Sicherheitsdienst von HelthWyzer ersetzt worden, der den Frieden aufrechterhielt, indem er mit radikaler Gewalt alle unliebsamen Bürger einfach beseitigte. Die Leichen wurden – meist ihrer inneren Organe beraubt, die HelthWyzer zu Forschungszwecken verwendete – zu Fastfood weiterverarbeitet, und zwar zu den süchtig machenden „SecretBurgers“, denn Fleisch war ein knappes Gut. Viele Menschen schlossen sich angesichts dieser schrecklichen Entwicklungen spirituellen Bewegungen an, etwa den „Gärtnern Gottes“, einer Art Öko-Sekte, die sich über den Dächern der Stadt ihre Version des Paradieses geschaffen hatte und dort ein pazifistisch-vegetarisches Leben führte – immer warnend vor der großen Katastrophe, einer wasserlosen Flut, die die Menschheit heimsuchen würde. Als der Roman einsetzt, ist all das bereits Vergangenheit. Denn die von den Gärtnern Gottes prophezeite Flut hat in Form einer plötzlichen Pandemie die Menschheit so gut wie ausgerottet. Zwei Frauen scheinen die einzigen Überlebenden zu sein: Toby, die vor der Katastrophe bei SecretBurgers gearbeitet hatte, dort von ihrem Vorgesetzten sexuell versklavt wurde und schließlich vor ihm zu den Gärtnern geflohen war, und Ren, die als Trapezkünstlerin in einer Art Bordell gearbeitet hatte und die „Flut“ überlebte, weil sie sich gerade in der Quarantänestation ihres Etablissements befand, nachdem ein Kunde ihren Bio-Körperstrumpf zerrissen hatte. Diese beiden Frauen sitzen nun in dem, was von den Gärten Gottes übriggeblieben ist, erzählen sich ihr bisheriges Leben und warten, ob nicht doch noch andere menschliche Wesen überlebt haben… Das Jahr der Flut ist der erste Roman der großen kanadischen Schriftstellerin Margaret Atwood, der inhaltlich an ein früheres Werk anknüpft: an Oryx und Crake aus dem Jahr 2003, in dem sie bereits ein ähnliches apokalyptisches Zukunftsszenario entworfen hatte und in dem die „Gärtner Gottes“ am Rande auch schon vorgekommen waren. Dennoch ist dies keine Fortsetzung, sondern ein ganz eigenständiges Werk, das lediglich in der gleichen „Welt“ spielt wie der frühere Roman. Diese Welt ist grauenhaft, und das Grauenhafteste daran ist, dass sie bis ins letzte Detail Wirklichkeit werden könnte, wenn wir so weitermachen wie bisher – das ist, natürlich, die Grundaussage des Buches. Doch Atwood kommt ohne erhobenen Zeigefinger aus, und das macht die Lektüre so genussvoll: Der Roman sprüht vor Fantasie und – bei allem Horror – vor skurrilem Humor; diese Mischung aus düsterer Weltuntergangsvision und spielerischer Leichtigkeit ist tatsächlich einzigartig. — Christoph Nettersheim
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