„…Das Buch Der Alte stirbt doch sowieso aus dem Herder-Verlag beschreibt jetzt die Missstände, die unter Fachleuten mehr oder weniger offen eingeräumt werden. In manchen Arztpraxen, Krankenhäusern und Pflegeheimen hören Patienten im Rentenalter gelegentlich schon mal den Satz Was wollen Sie denn? Das ist das Alter . Und müssen erleben, dass sie ohne Hilfsangebot nach Hause geschickt werden, Reha-Behandlungen oder Physiotherapie aus Kostengründen verweigert werden und Ärzte reihenweise zu Psychopharmaka greifen, oft ohne Rücksicht auf das erhöhte Schlaganfallrisiko bei Älteren, wie es die Wissenschaftsjournalistin Ursula Biermann in ihrem Report berichtet. Alte Patienten würden im deutschen Gesundheitswesen vielfach auf erschreckende Weise diskriminiert, meint die Autorin. Sie fänden oft schon keinen Platz in Krankenhäusern, wenn sie mehrere schwere Krankheiten haben. Die Fallpauschalen, aus denen die Behandlung finanziert wird, decken nämlich nur eine Krankheit ab. Auch für die, die aufgenommen werden, laufe die Versorgung keineswegs optimal: Wegen des Pflegenotstands fehle Zeit zum Füttern. Druckgeschwüre entstehen, weil zu selten umgebettet wird. Fixierung auch gegen den erklärten Willen und Zwangsernährung mit Magensonden kämen in Tausenden Fällen vor. Wer zeitweise die Kontrolle über die eigene Urteilskraft verliere, dem drohe die Bestellung eines Betreuers und damit der weitgehende Verlust jeglicher Form von Selbstbestimmung, denn überlastete Richter folgten zu schnell entsprechenden Anträgen, meint die Buchautorin. Spektakuläre Einzelfälle aufgearbeitet Für ihr 200-Seiten-Buch hat Biermann spektakuläre Einzelfälle wie jenen eines kranken 80-Jährigen recherchiert, der um drei Uhr morgens aus dem Krankenhaus entlassen wurde und nach Hause laufen musste, weil niemand die Angehörigen verständigte. Die Autorin hat Studien und offizielle Quellen wie den Altenbericht der Bundesregierung ausgewertet und Betroffeneninitiativen befragt. Herausgekommen ist ein gelegentlich zugespitzt und polemisch formulierter Bericht, der schon im Titel auf Emotionen setzt. Die öffentliche Diskussion über die Rationierung von Gesundheitsleistungen für Alte wird immer ernsthafter geführt, jüngst hat Ärzteverbandspräsidenten Jörg-Dietrich Hoppe sie wieder angeheizt. Das Buch gibt nun aber einige bedenkenswerte Anstöße. Mangels genauer Quellenhinweise lassen sich manche Feststellungen Biermanns allerdings kaum nachvollziehen. Wenn sie sich auf eine Frankfurter Studie beruft, nach der über 90 Prozent der Psychopharmaka-Verschreibungen zu beanstanden seien, bleibt offen, was genau sie damit meint. Auch ihre These, dass bei fünf bis 14 Prozent der zu Hause Versorgten körperliche Gewalt ausgeübt wird , wird nicht konkret belegt. Angesichts der hohen Dunkelziffern bei dem Thema und vielfach fehlender Dokumentation dürften Zahlen auch immer mit Gegenuntersuchungen angreifbar sein. Verdienstvoll bleibt aber, auf bisher wenig beachtete Missstände aufmerksam zu machen, die von Experten meist nur hinter vorgehaltener Hand eingeräumt werden. Das Buch verweist auf ein Portal des Kuratoriums Deutsche Altenhilfe, in dem jeder erschütternde Einzelfälle aus der Praxis selbst nachlesen kann. Baumann liefert einige Lösungsvorschläge: So müssten die bisher weitgehend unbekannten Arzneimittelwechselwirkungen konsequenter erforscht werden. Unter ihnen leiden naturgemäß Alte besonders, weil sie häufig viele Medikamente zugleich schlucken müssen. Die Autorin fordert schärfere, unangemeldete Kontrollen in Pflegeheimen und Erstattung von Personalkosten nur gegen den Nachweis, dass diese Kosten auch tatsächlich angefallen sind….“ (WELT ONLINE, Berlin, Rolf Schraa)