JUNGER MANN BEWAHRT DAS UNZENSIERTE TRÄUMEN. So viel ist sicher: Dieses Buch ist lesenswert für alle, die sich dazu bereit machen, die Schichtung und die Absonderlichkeit der Sprache, Bilder und Verknüpfungen von Ziegers Roman „Der Kasten“ als verstörend bereichernd zu begreifen. Vor kurzem wurde am Mecklenburgischen Staatstheater Schwerin ein Stück des in Berlin und Frankreich lebenden Autors uraufgeführt: „Das zwischen den Schläfen … den Augen“ Ist dieser Text spielbar? Lesbar? „Der Kasten“ jedenfalls ist in dem Maß lesbar, wie man bereit ist, sich ihm auszuliefern, obwohl kein im herkömmlichen Sinne „reifes“ Werk entstanden ist, sondern die Brüche manchmal schmerzlich. Dabei packt einen der Inhalt weit weniger als die entgrenzte Wahrnehmung die Zieger der Hauptperson, einem jungen Mann, eingibt. Nach einer qualvollen Kindheit in der Provinz nimmt er in die Stadt B. ein paar Erinnerungen mit: an den geliebten Großvater, an seine Alkoholexzesse im Milchbartalter und an die alptraumhafte Entdeckung von fünf schwarzen Bildern, deren dämonische Kraft im Zusammenhang mit einem Geheimprojekt namens „Kasten“ sein weiteres Leben bestimmen werden. Ob der Kasten in Wahrheit eine Anstalt war, in der „Angehörige einer auffällig gewordenen neuen Bewegung, welche sich dem Fernsehzwang zu entziehen gedenken verschwänden“? „Schwarz“, schießt es dem jungen Mann zum Ende durch den Kopf, „ist die Farbe des Anfangs“. Mit dem Erreichen von B. hat Zieger sich von der schwindelnden, bildertrunkenen Höhe der ersten 80 Seiten verabschiedet. Zu dieser, die Zeit und Realitätsebenen überspannenden, halluzinatorischen Höhe, die die Radikalität eines Surrealisten wie Louis Aragon bei weitem überragt, weil sie viel gefährlicher wird, entschließt Zieger sich erst wieder zum Ende hin. Die Hauptperson hat nie den Versuch gemacht, sich zu schützen gegen die, die ihn, den Taugenichts, verachten, benutzen und schädigen. Denn ein solcher Versuch erscheint ihm sinnlos: „Ich hatte mich in der Zwischenzeit mit etwas Abseitigem beschäftigt, mich auf Leute eingelassen, die dem normalen Leben gegenüber taub waren.“ Darin, sich sogar den eigenen Zwangsvorstellungen rückhaltlos auszusetzen, weil er letztlich seine Einsamkeit annimmt, bewahrt sich der junge Mann die Stärke des unzensierten Durchsehens und des Träumens. –Katja Engler, SVZ, 25.1.97DIE PARABEL VOM SCHWARZEN KASTEN. In Verschlüsselungen seinen Empfindungen, Ängsten und Verzweiflungen Ausdruck zu geben, ist eine Kunst, die man wohl besonders dann lernt, wenn man nicht offen und frei darüber reden kann. So ist das Buch „Der Kasten“ von Ulrich Zieger in teils beklemmender Art ein Spiegelbild der DDR der 80er Jahre mit ihren Zwängen, Bespitzelungen und geschlossenen Grenzen. Ulrich Zieger, 1961 im sächsischen Döbeln geboren und vorwiegend der Lyrik zugewandt, veröffentlichte 1995 seinen ersten Roman. In Form eines „Berichtes“, wie sie der Staatssicherheitsdienst über die Bürger anfertigte, läßt er ein Lebensjahr – „vielleicht auch mehr“, wie Zieger sagte – des Berichterstatters ablaufen. Der namenlose Mann hat sich in ein Gartenhaus an einem stillgelegten Bahngleis zurückgezogen, um seinen Bericht zu schreiben. Der Garten, das Haus und alle Pflanzen sind schwarz vom Ruß – „sie gibt es noch heute so“, bemerkte der Autor. In facettenreicher, subtiler Sprache stellt Zieger die Befindlichkeiten des Erzählers vor Augen. „Schwarz“ ist gleichsam die Farbe nicht nur für Krankheit und Tod, sondern für Aussichtslosigkeit, Angst und Scheitern. Der Berichterstatter arbeitet eine Weile bei einem Maler und Restaurator, der in 30 Jahren nur fünf schwarze Bilder malte. Diese Bilder strahlen für seinen Betrachter eine eigenartige Faszination aus, ebenso das Bild eines Turmes in Schwarz-weiß, von einem anderen gemalt und in den 30er Jahren als entartete Kunst verboten. Der Turm und die fünf schwarzen Tafeln werden für ihn zum „schwarzen Kasten“ aus dem es keinen Ausweg gibt. Alles wandelt sich für ihn in Schwarz; die ganze Stadt wird schwarz, und auch er selbst fühlt sich so innen und außen. Dieses „Kraftfeld des Schrecklichen“ macht ihn krank, ebenso ein Fenster gegenüber, aus dem er sich ständig beobachtet fühlt. Er sucht einen Ausweg und findet sich wieder in der Stille des Gartens. Ulrich Ziegers Ausdrucksfähigkeit ist äußerst fesselnd. Ohne Pathos oder dicken Pinselstrich zeichnet er seine Roman-Figur im Umfeld der Diktatur, die im Hitler-Regime begann. Die Verfolgung unangepaßter Menschen wird nicht vordergründig beschrieben, sondern in Metaphern, in Parabeln und Träumen aufgedeckt. Ziegers plastische und gleichzeitig verhaltene Sprache formt ein faszinierendes Psychogramm. –Gisela Foltz, Die Rheinpfalz, 13.10.97GEBT MIR DAS SCHWARZLAND ZURÜCK. Von Ulrich Ziegers neuester Veröffentlichung beim Druckhaus Galrev, dem Roman „Der Kasten“ lag bereits das Poem „Schwarzland“ als Auszug vor. „gebt mir das schwarzland zurück, all die atemgeschwärzten zweige der weiden in langen novembern in wasser hinabhängend, wasser die schwarz sind vom grund her und schwarz ihre bilder im mittag der windstillen zeit…“ Das Poem ist getränkt in den Willen wahr zu sprechen, die Lektüre dieser vierzehn Seiten ließ eine nasse Beklemmung in mir zurück. „Schwarzland“ überträgt eine Wahrhaftigkeit, die sich selbst durchsichtig macht, die aufzeigt, daß im Anheben der Stimme das Leben schon dem Verrat ausgesetzt ist, der Schatten Hintergedanke des Lichts ist. „gebt mir das schwarzland zurück“-das ist in erster Linie die Benennung einer Wirklichkeit. Welcher? Personen und Handlung des Romans sind frei erfunden. Z., Erzähler und Held des Romans, wächst in einer Kleinstadt im Südosten dieses Landes auf. Rausschmieß aus dem Elternhaus, vorzeitiger Schulabbruch, erster, willkürlicher Einstieg ins Alkoholikermilieu. Z. macht die Bekanntschaft mit einem früheren Freund seines verstorbenen Großvaters, einem Maler, bei dem er eine Lehre als Restaurationsgehilfe anfängt. Im Atelier des Malers entdeckt Z. fünf Gemälde, frühe expressionistische Arbeiten aus dem kaum vorhandenen Schaffen des Malers, die nicht zuletzt aufgrund ihrer absinthenen Farbgebung einen starken Eindruck auf Z. hinterlassen. Auf die Entstehungsgeschichte dieser Gemälde befragt, erfährt er vom Maler, daß sie aus den dreißiger Jahren stammen, in denen er in B. einer Künstlervereinigung namens „Der Kasten“ angehörte, die von den Nazis später aufgelöst wurde. Z. hört zu trinken auf, verläßt seine Heimat und zieht nach B., um nach Spuren dieser verschollenen Künstlervereinigung zu suchen. Der Kasten ist die Last der Deutung, die auf dem Roman liegt, und zugleich in jedem seiner Momente Ereignis. Also Spur, könnte man sagen, die nächtlichen Streifzüge Zs. In B., das stumme Sichverzweigen in den Bars und den Straßen, begleitet von „Love will tear us apart“ der Joy Division. Z. findet in einem Verlag Arbeit als Telefonist und verschafft sich durch einen Vorwand Zugang zu dem Archiv, wo die Baupläne der Stadt über Jahrzehnte gesammelt wurden und von denen er sich erhofft, mehr Aufschluß über den Kasten zu erlangen. Eingeschlossen über Nacht, verfällt er seiner alten Trunksucht. Die Ausdünstungen des Papiers, das Gefühl, so ganz im Körper des Archivs zu sein, veranlassen ihn, sich nackt auszuziehen. In diesem Zustand begegnet er Weigel, der anderen tragenden Figur des Romans. Das ins Innere Schließende des Archivs, das Z. in seiner Nacktheit – in seiner Suche nach dem Kasten – ausfüllt, ist nun das Ausgesetztsein einem Blick. Das macht Schwindeln, im doppelten Sinn des Wortes. Wahrhaftigkeit, Verführung und Verrat gerinnen zu einem Konzentrat, das die Essenz der nun einsetzenden Verwicklungen ist. Sie beginnen damit, daß Z. in dieser Nacht zum Mitwisser wird an dem Mord, dem der Pförtner zum Opfer fällt und mit dem Weigel in irgendeiner Weise zu tun haben mußte. Weigel gehört, wie sich für Z. alsbald herausstellt, dem Büro an, einer observierenden Anstalt, die über Z. und dessen Schriftstellertätigkeit informiert ist. Begünstigt durch dessen Alkoholrückfall und Geldmangel gelingt es Weigel, zu Z., Kontakt zu halten und ihn in das Umfeld von Bergner, einem oppositionellen Künstler, einzuschleusen. Weigels erklärte Absicht ist es, die immanente politische Aussage der Künstler ans Licht zu bringen. Denn sind die Intentionen der Kunst erst einmal unter seinem Blick, können sie archiviert werden und die Gefahr für den Staat wäre für’s erste gebannt. Wohlgemerkt, Weigel fördert das oppositionelle Geschehen, er fördert es in dem Maß, wie er es vorgibt zu verurteilen und zu verfolgen. Sein Blick muß immer der erste sein, der auf dem fortschreitenden Geschehen ruht, und so bleibt ihm nichts anderes übrig, als die ‚Notwendigkeit‘ selbst zu machen. Als Z. von Binder, einem Mitarbeiter Weigels, Fotos gezeigt bekommt, auf dem Bergner und seine Freundin „Elzbieta, für die er eine heimliche Liebe hegt, mit Binder bei einem Ausflug auf einer Yacht zu sehen sind, geht ihm auf, daß das Hauptanliegen des Büros darin besteht, die richtigen Leute zur richtigen Zeit an einem zur Not auch nur simulierten richtigen Ort zueinanderzubringen. Gelang das nicht, bestand kein Zweifel an der Notwendigkeit einer Vernichtung. Daraufhin schreibt er einen Bericht, den ersten und das einzige was er für berichtenswert hielt, das Poem „Schwarzland“. Was die Lektüre dieses Buches für mich gleichermaßen interessant und schwierig macht, sie fingern läßt, ist meine Hilflosigkeit gegenüber dem Konspirativen. Das Konspirative spielt auf das an, worüber es spricht. Es öffnet eine Zukunft, in der nur Gespenster existieren, wo schon die Wahrnehmung phänomenal zu einem Verrat gerät. Was aber – und das sind die Fragen, die der Roman aufwirft – wenn der Verrat nichts als das Geschehen selbst ist, inwiefern kann man dann überhaupt noch von Verrat sprechen? Was, wenn eben diese im Roman beschriebene Simulation ein Geschehen hervor- und voranbringt, in dessen Namen wiederum die Simulation und deren Agenten verurteilt werden? Und wenn Z. nichts verraten hat, was bedeutet dieser Nicht-Verrat für die Beziehung zwischen Weigel und dem Künstler Bergner? Enthüllung der Enthüllung? Daraufhin ist „Schwarzland“ angelegt. Das Poem oszilliert zwischen zwei Bedeutungen von Verrat: einmal etwas verraten, zeigen, erkennen lassen (er verrät mit keiner Bewegung) zum zweiten: etwas verrät jemanden, oder läßt etwas erkennen. Z. nimmt den observierenden Blick in seinen eigenen hinein, wird seine eigene in die Enge getriebene Weite, bis zu dem Punkt, wo aufscheint, woher er und andere aufbrachen, das ‚Echte‘ zu suchen – den Kasten, die verschollenen Künstlervereinigung. Z. soviel sei verraten, findet schließlich den Kasten. Deutung und Ereignis des Kastens – der jeweilige blinde Fleck im Leben der handelnden Figuren – kommen zur Deckung: „Ich stieß die Tür auf, schloß die Augen und trat ein. Niemand wird von mir erfahren, was ich in der Nacht gesehen habe. Am nächsten Morgen verließ ich B.“ Der Lyriker Ulrich Zieger begegnet uns in seinem ersten Roman mit konzentrierter Erzählkunst und öffnet eine andere, unbehagliche Sichtweise auf ein Thema, das schon längst ausdiskutiert scheint. –Silvio Pfeuffer, Edit, 9 3.12.95ERLEBTES SCHWARZLAND. -Ein Versuch, über ein Künstlerleben, die DDR Phantasien und die Liebe zu schreiben.- Bücher, die versuchen, das Leben in der DDR rückblickend einzufangen, gibt es mittlerweile recht viele. Ulrich Ziegers Roman „Der Kasten“ nimmt das Thema ebenfalls in Angriff, allerdings aus anderer Sicht, einem zutiefst subjektiven Blickwinkel: Wohl jedem, der mit der Eisenbahn fährt, wird die beinahe pathologisch wirkende Mühe, welche die Besitzer ihren unmittelbar an die Bahngleise grenzenden schwarzen Kleingärten angedeihen lassen, aufgefallen sein. Sie stoßen den neugierig aus dem Zugabteil Blickenden ab, rufen Kopfschütteln, vielleicht sogar Abscheu hervor. Aber manchmal wir auch ein – von neuen Eindrücken freilich schnell verdrängtes – Interesse geweckt – was bewegt diese Menschen zu solch absurdem Tun, was läßt sie ein Idyll da aufbauen, wo keines sein kann? Einer von jenen, dabei allerdings reichlich untypisch, ist der Erzähler Z. in Ulrich Ziegers Roman „Der Kasten“. Er sitzt in einem der schwarzen Gärten an einem mittlerweile – die Wendegeschehnisse sind bereits Vergangenheit – stillgelegten Gleis und erinnert sich der verschiedenen Episoden, die ihn in diesen Garten führten. Die Schilderungen werden dabei immer wieder durchbrochen von der Gegenwart des schwarzen Gartens und vor allem durch die Gedanken an seine Liebe, an Elzbieta. Ansonsten wird in diesem schönen, in der Wahl seiner Bilder manchmal ebenso dunkel, wie auch lyrisch anmutenden Roman erzählerisch ein Kreis geschlossen, der in besagtem Garten seinen Anfang nimmt und dort mit den Worten „Ich habe den Garten geschaffen, der meinem Verlangen nach Stille und Schwärze entsprach. Ich hasse ihn.“ auch endet. In den Kreis eingefügt sind Erlebnisse, die ihre Ursache hauptsächlich in den Nachforschungen des Erzählers zu der Künstlergruppe „Der Kasten“ finden. Jene existierte in den dreißiger Jahren und ihr jähes, geheimnisvolles Ende entzündet die Phantasie und auch den Wissensdrang von Z., der, um in seinen Nachforschungen voranzukommen, nicht davor zurückschreckte mit dem „Büro Weigel“, mit der Stasi, zusammenzuarbeiten. In diesem Zusammenhang arbeitete er bei einem Journalisten, über den er Berichte verfassen sollte; und dort lernte er dann – was für ihn das weitaus wichtigere Faktum war – Elzbieta kennen. Die Liebe zu diesem Mädchen verändert sein Leben ein weiteres Mal völlig, und die Grenzen zwischen Phantasie, Wirklichkeit und Rausch waren für ihn inexistent geworden. In nur einer Nacht schrieb er das Poem „Schwarzland“, dessen dunkle Bildersprache den Lesenden niederdrückt, entzückt, entsetzt, vor Rätsel stellt. Mit den Erinnerungen verbindet der Erzähler unzählige Gedankengänge, Assoziationen und tiefgehende Ausführungen. Dazu muß aber angemerkt werden, daß er sich manchmal oberflächlich zu Problemen äußert, die eines tieferen Nachdenkens wert wären. Außerdem entweichen Z. Phantasien in einigen Passagen in Gefilde, die zu deuten dem Leser kaum möglich ist und die dergestalt Ratlosigkeit und Verwirrung stiften. Allein solches geschieht in dem Roman selten, viel öfter finden sich Ansichten, deren Gültigkeit mit dem Ende des Schwarzlandes, der DDR, keineswegs verloren ging. Beispielhaft dafür seien die folgenden Zeilen, die auch als unbedingte Leseempfehlung gelten sollen, genannt: „In meinem Jahrhundert, besser gesagt, in den Jahrzehnten meines Jahrhunderts an denen ich teilhatte, vergaßen die Menschen die Möglichkeiten, ihre Phantasie zu handhaben. Sie vergaßen zu erzählen, zu hören, zu lauschen, den Bildern und Worten ihrer Träume zu vertrauen.“ –Michael Neumann, Dresdner, September 96