Poesiealbum der Postmoderne Patricia Dunckers Romandébut «Die Germanistin» Sie sind Kronzeugen für das «Gegen-Gedächtnis» einer Epoche, die den Wahnsinn seiner Würde beraubt hat – die Dichter und Denker von Diderot über de Sade, Hölderlin und Nietzsche bis zu Artaud: Diese illustre Reihe aus Michel Foucaults «Histoire de la folie à l’âge classique» wurde letztes Jahr von Patricia Duncker um einen weiteren wahnsinnigen Musensohn ergänzt. Die in Grossbritannien ausgebildete und unterrichtende Hochschullehrerin hat sich von James Millers Foucault-Biographie zum Griff nach der Literatenfeder verführen lassen – Miller zeichnet den Philosophen Foucault als verhinderten Schriftsteller, den Mann Michel als komplexbeladenen Homosexuellen. Ihren Romanerstling versteht Duncker als Geschenk an den (gemessen an seinen Ansprüchen) Gescheiterten; schuf sie doch, nach dem wirklichen Namen Foucaults, den Autor Paul Michel, «the novelist Foucault had always wanted to be. And I also gave him a young man who loved him beyond anything else, who was as handsome as James Dean.» Promotion und Promiskuität Unser Adonis, der namenlose, 22jährige Ich-Erzähler in «Die Germanistin» (engl. «Hallucinating Foucault»), schlägt sich in Cambridge mit der Doktorarbeit über einen französischen Schriftsteller herum, über eben jenen Paul Michel, der, so Dunckers Fiktion, ein Foucault-Jünger ist. In der Raucherecke der Bibliothek lernt der Doktorand einen weiblichen Bücher-Berserker kennen, eine knabenhafte Kollegin, die sich Friedrich Schiller verschrieben hat. Die forsche, sinnliche junge Frau ist eine fanatische Forscherin, die «ihren» Autor mehr als das Leben liebt und von ihrem neuen Freund dasselbe Engagement erwartet. Sie schickt ihn nach Paris, wo er Paul, der dort vor neun Jahren in der Psychiatrie versenkt wurde, befreien soll. Der schizophrene Schriftsteller hat den Aufstand gelebt und gegen alle dominierenden Diskurse und Daseinsformen – Familie, Heterosexualität, Politik, Krieg – gekämpft. Doch im Kern seines Schaffens steht ebenfalls die Liebe – die Liebe zu seinem idealen Leser Michel Foucault. So windet sich sein kontrasthalber klassizistisch strenges Werk um Foucaults vielzitierte Frage: «Was ist die Philosophie heute [. . .] wenn sie nicht [. . .] in der Anstrengung liegt, zu wissen, wie und wie weit es möglich wäre, anders zu denken?» Vier Tage nach dem Tod Foucaults, am 30. Juni 1984, fällt der Dichter mit einem Brecheisen über den Friedhofswächter her, als dieser ihn vom Umstürzen der Grabsteine abhalten will. So gerät er in die Mühlen der Macht, hinter die Mauern des Hôpital Saint-Anne, in dem Foucault zwei Jahre lang als Diplompsychologe gearbeitet hatte. Ja, genau, es geht einerseits um die repressive Gesellschaft, die aus dem «tragischen Wahnsinn», aus einer «vertrauten Fremdheit» («Histoire») einen medizinischen Fall, eine mentale Schwäche gemacht hat. Anderseits möchte die Autorin der Psychiatrie und den Patienten nicht auf die Füsse treten, bedankt sich am Schluss artig für den «fachmännischen Rat» aus der Anstalt in Clermont-Ferrand (wo der promovierende James Dean das Objekt seiner Begierde endlich findet) und lässt den Literaten seine Leidensgeschichte vermeintlich ohne falsche Romantik aufrollen: «Es ist ein Zustand der Unruhe, echter Qualen, extremer Ängste.» «Deans» Anhänglichkeit hilft dem Medikamente verweigernden Zyniker; sein Zustand stabilisiert sich, und er darf mit «dem Kleinen» in die Ferien: Eine weitere folie à deux beginnt. Der brave Mittelschichtssprössling überschreitet tatsächlich die Grenzen bürgerlichen Benimms, bürgerlicher Sexualität. «Ich stürzte kopfüber in einen Tunnel ohne Ende [. . .] Ich war am Rand eines Abgrunds [. . .] Dann verschwand alles, als ich an seinen nackten Bauch gepresst kam.» Foucault, pastoral? Armer Foucault. Hatte er in seinen Bänden über «Sexualität und Wahrheit» dem Subjekt via souveräne Selbstpraktik ein wenig Freiheit gegönnt und diese gerade auch in der klassischen Knabenliebe ausgemacht, so wird hier die «Pastoralmacht» Pauls mit pubertären Liebesleiern bekräftigt. Man kommt nicht umhin, sich zu fragen, was die blitzgescheite Germanistin und der Prix-Goncourt-Träger Paul bloss an dieser jämmerlichen Figur finden. Zur Erleichterung des Lesers löst sich das Rätsel schliesslich: Vor fünfzehn Jahren traf der Autor einen elfjährigen Jungen, der den Mittdreissiger mit seiner Ehrlichkeit und Entschlossenheit bezauberte. «Dieser Junge war meine erste Liebe. Und ich die seine.» Beim Abschied stellt sich heraus, dass der Junge ein Mädchen ist; sie verspricht, ihm in der Not immer zur Seite zu stehen. Die Ahnung trügt nicht: Das Mädchen von einst ist zu unserer Germanistin herangereift, die «le petit» auf Rettungsmission geschickt hat. Sie ist es auch, die nach Pauls Suizid für den Studenten und sich selbst einen Brief an den Toten verfasst: «Du hast gesagt, dass die Liebe zwischen einem Schriftsteller und seinem Leser nie wirklich gefeiert wird (. . .) Das ist nicht wahr. (. . .) Du wirst immer meine ganze Hingabe, meine ganze Liebe besitzen. Je te donne ma parole. Ich gebe Dir mein Wort.» So spielt der Roman selbstverliebt mit seinen Leserbriefen, schachtelt in die erste Liebesgeschichte eine zweite, dritte, vierte, gar fünfte, flicht eifrig Foucault-Zitate ein und rahmt das Ganze mit zwei Traumsequenzen. Zu dieser vielfachen Spiegelung gibt es kein preziöses stilistisches Pendant. Ein vielleicht zu verliebter Versuch für den Erstling: «Alles» zu sagen ist durchaus diffizil; alles von irgendwie doch furchtbar netten Menschen auch noch locker-flockig sagen zu wollen, kann fatal sein. Da nützt auch die – von der Autorin diagnostizierte – «worrying creepiness» der Träume nicht viel. Was ein unterhaltsamer Campus-Roman über die Freuden und Leiden des Promovierens hätte werden können, verlangt als Poesiealbum der (Foucaultschen) Postmoderne nach höheren Weihen. Wer aber schon vor Traumchiffren zurückschreckt, muss sich schwertun mit den Themen eines Foucault, den Sprachformen seiner verrückten und verzweifelten Visionäre. Schade um die verschenkte Idee. Alexandra M. Kedveš
— Dieser Text bezieht sich auf eine vergriffene oder nicht verfügbare Ausgabe dieses Titels.