Essen muss der Mensch. Aber was er zwecks Lebenserhalt oder auch des Genusses willen zu sich nimmt, ist äußerst variabel beim Homo sapiens, diesem Allesfresser. Um so deutlicher zeichnet sich im Was und Wie der Nahrungsaufnahme kultureller und gesellschaftlicher Einfluss ab. Wie entscheidend die Esskultur sogar die Menschwerdung beeinflusst hat, zeigt sich am Zusammenhang zwischen der Entdeckung des Feuers und der Sprachentwicklung: Weil gebratenes Fleisch leichter zu kauen und zu verdauen ist, konnte sich das Gebiss des urzeitlichen Gourmets verkleinern, wodurch der Mund zum Artikulieren von Sprache tauglicher wurde. Der Historiker und Volkskundler Gunther Hirschfelder hat sich viel Mühe gemacht, den Speiseplänen und Esssitten von der Steinzeit bis heute nachzuspüren, erhellende Entwicklungslinien und Zusammenhänge sichtbar zu machen. Da wird beispielsweise deutlich, dass nicht unbedingt von einer stetigen Höherentwicklung unserer Esskultur ausgegangen werden kann. Manche Errungenschaften wie der Gebrauch differenzierter Esswerkzeuge oder die soziale Bedeutung der gemeinsamen Mahlzeit sind in unserer Imbiss- und Fastfood-Kultur erheblich in Gefahr. Spannend auch die Erkenntnis, dass Essen seit den Zeiten der alten Ägypter und Griechen, denen wir sozusagen die Basisrezepte für die europäische Küche verdanken, stets mit gesellschaftlichem Status zu tun hatte. Und mit politischer Macht: von den Brot-und-Spiele-Programmen der Römer über die diversen Fastengebote der katholischen Kirche bis zu den Bemühungen um einen gesund ernährten Volkskörper im 3. Reich. Die Nationalsozialisten mussten aber auch erfahren, was eine der Haupterkenntnisse dieses spannenden Streifzugs durch die Europäische Esskultur ist: „Die historische Betrachtung zeigt, dass die Nahrungssysteme auf Neuerungen prinzipiell schwerfällig reagieren, dass die Menschen bestrebt sind, am Bewährten festzuhalten“. Aus diesem Grund konnte selbst die Gründung eines „Reichsvollkornbrotausschusses“ im Jahre 1939 die Lust der Deutschen auf Weißbrot nicht entscheidend vermindern. Ein ungeheuer interessantes Thema, in das man hier kompetent und mit vielen Abbildungen eingeführt wird. Der Balanceakt zwischen wissenschaftlicher Fundiertheit und Lesbarkeit gelingt dem Autor zufrieden stellend. Das einzige was man als Leser wirklich bedauert — dass nach 250 Seiten schon Schluss ist. Besonders im letzten Kapitel lässt einen die Knappheit und Überblicksartigkeit der Darstellung unbefriedigt zurück. Der tief greifende Wandel der letzten Jahrzehnte — Tiefkühl- und Fertiggerichte, Fastfood- und Imbisskultur, Functional- und Designerfood, Essstörungen und Fettleibigkeit, der Trend zu internationalen Küchen, die neue Orientierungslosigkeit angesichts der Warenfülle, etc. — kann auf gerade mal 20 Seiten nur kurz angerissen werden. Sehr schade. –Christian Stahl
— Dieser Text bezieht sich auf eine vergriffene oder nicht verfügbare Ausgabe dieses Titels.