Anfang 2001 sorgten Bilder, die Joschka Fischer als prügelnden Demonstranten zeigen, in den Medien für Furore. Nicht nur der Außenminister musste sich peinliche Fragen zu seiner militanten Vergangenheit gefallen lassen, auch die gesamte 68er-Generation fand sich unversehens auf der Anklagebank wieder. Der Hamburger Historiker und Politikwissenschaftler Wolfgang Kraushaar knüpft in seinem neuen Buch an die jüngste Auseinandersetzung um den früheren Straßenkämpfer Joschka Fischer an. Er analysiert dessen wohl einmalige politische Karriere, indem er sie in wichtigen Aspekten entpersonalisiert. Und er beschreibt den historischen Kontext, aus dem die Stationen von Fischers politischer Biografie zu begreifen sind: die antiautoritäre Revolte, die Sponti-Szene mit Daniel Cohn-Bendit, den Frankfurter Häuserkampf und den Konflikt um die Durchsetzung des realpolitischen Flügels bei den Grünen. Erst aus diesen sozialen und kulturellen Zusammenhängen gewinnt die komplexe Person des Außenministers ihre Kontur. In der von anklagender Polemik, von Ressentiments, politischem Kalkül aber auch von schlichter Unkenntnis verzerrten Debatte, ist das Buch sichtlich um Aufklärung bemüht. Neben Fischers politischer Karriere, die Kraushaar als ein „einzigartiges gesellschaftliches Cross-over“ begreift, sind es daher vor allem die Entwicklung der linksradikalen Frankfurter Szene und ihr Verhältnis zum RAF-Terror, denen der Autor eigene Kapitel widmet, ergänzt durch einen informativen Essay über die CDU-Kampagne gegen Joschka Fischer sowie einen Beitrag zur Israelpolitik des Außenministers und seiner unverhofften Rolle als Nahost-Vermittler. Indem Wolfgang Kraushaar den schmerzreichen Weg Fischers zum politischen Realismus dokumentiert, skizziert und analysiert er gleichzeitig ein Stück jüngster bundesdeutscher Geschichte, um dessen Bedeutung für das politische Selbstverständnis dieser Republik eine heftige Kontroverse tobt: den Mythos 1968. –Stephan Fingerle