Die Geschichte Europas im frühen Mittelalter ist oft beschrieben worden. Generationen von Historikern haben die Kenntnis vom Untergang der Merowinger und vom Aufstieg der Karolinger erweitert, haben die Entstehung, Blüte und allmähliche Auflösung des Frankenreiches nachgezeichnet. Der mächtigen Gestalt Karls des Großen ist bis heute eine bedeutende Anziehungskraft geblieben, und der Prozeß der langsamen Herausbildung selbständiger Staaten in West- und Nordeuropa kann gerade in unserer Zeit besondere Aufmerksamkeit beanspruchen.Die gesicherten Ergebnisse einer traditionsreichen historischen Forschung finden in dem vorliegenden Buch ihren Niederschlag. Doch es unterscheidet sich von vielen herkömmlichen Darstellungen darin, daß es der politischen Geschichte ihre absolute Vorrangstellung nimmt und neben ihr die anderen Aspekte des historischen Lebens zur Geltung bringt. Hier wird die wirtschaftliche Entwicklung zwischen dem 8. und 11. Jahrhundert detailliert geschildert, wird die Bedeutung eines Handelsverkehrs veranschaulicht, der so weit auseinanderliegende Bereiche wie Arabien und Skandinavien schon damals miteinander verband. Großes Gewicht legt der Verfasser, Professor Jan Dhondt von der Universität Gent, den sozialen Phänomenen und Veränderungen bei: er beschreibt den Aufbau der Gesellschaft vom Sklaven bis zum Adeligen, die verschiedenen Formen von Gruppenbildung, die Entstehung eines eigenen Bewußtseins bei den Stadtbewohnern, die Verhältnisse bei bestimmten Berufsständen wie den Kaufleuten.Die Entwicklung des Glaubens und die Klosterreform gehören ebenso in dieses Bild der historischen Wirklichkeit wie die Blüte des geistigen Lebens in der „Karolingischen Renaissance“ oder wie der Alltag des frühmittelalterlichen Menschen und sein täglicher Kampf um die materielle Existenz.All diese Themen behandelt der Autor auf der Grundlage der jüngsten Forschung und zugleich in kritischer Auseinandersetzung mit ihr. Die Objektivität, die er in seiner Darstellung übt, bedeutet keineswegs den Verzicht auf eine eigene Stellungnahme, auf persönliches Engagement. Die Verve, mit der dieses Buch geschrieben ist, macht es bei aller wissenschaftlichen Zuverlässigkeit zu einer höchst fesselnden Lektüre.Der Band ist in sich abgeschlossen und mit Abbildungen, Kartenskizzen, einer Zeittafel und einem Literaturverzeichnis ausgestattet. Ein Personen- und Sachregister erleichtert dem Leser die rasche Orientierung.Die Geschichte Europas im Mittelalter findet ihre Fortsetzung in Band 11 der „Fischer Weltgeschichte“: „Das Hochmittelalter“.