Tatort des Schicksals, Trophäe des Lebens Gisela von Wysockis Betrachtungen des menschlichen Gesichts Edmond Jabès hat es mit einer Galionsfigur verglichen, exponiert wie diese zieht es seine Bahn. Immer an vorderster Front, von den Wettern des Lebens gegerbt, Maske, Schild und Wunde zugleich, ist das menschliche Gesicht die Schnittstelle, an der Eigensinn und Zurichtung, die individuellen Züge und die Zumutungen der Gesellschaft zusammentreffen. Mutig sei es, sagt Jabès, überhaupt ein Gesicht zu haben. Aber sind wir nicht mit ihm geschlagen – von den Göttern oder den Genen? Und ist das Gesicht nicht Tatort, ja Trophäe des Schicksals. Doch hat es bei dessen Vorbereitung ja mitgeholfen: Das Leben wäre anders verlaufen, beispielsweise mit braunen Augen. Und dennoch sind wir verantwortlich für unser Gesicht. Das menschliche Gesicht gibt Rätsel auf. Es ist eine Hieroglyphe, nie ganz entzifferbar und nie ganz zu Ende codiert. Ein Schichtwerk von Häuten, die Innenwelt der Aussenwelt der Innenwelt. Es ist ein «Irgendetwas, das weder Subjekt noch Substantiv» ist, wie Emmanuel Levinas schreibt, Nahtstelle zwischen Individuum und Zeichen, Körper und Sprache. Schon darum ist die Physiognomie ein bewährtes literarisches Sujet. Gisela von Wysocki begreift das menschliche Gesicht als fremde Bühne, die sie gewissermassen durch die Hintertür betritt. Die Frankfurter Autorin, die mit ihren Essays, Prosagedichten und Bühnenwerken als avancierte Grenzgängerin zwischen den Gattungen firmiert, hat Bekannte, Freunde und Zufallsbekanntschaften zum Reden über das eigene Gesicht angestiftet und damit fremde Gesichter buchstäblich zum Sprechen gebracht. Die spezifischen Metaphern jedes Einzelnen, seine «geheimen Systeme» bestimmten den Rahmen und das Resultat des Gesprächs. Nach dem «wahren» Gesicht wurde nicht gefahndet, sondern eine «inszenierte Erscheinung sprachlich gefunden». Eine auf Zeit gegründete Kontur, «in einem auf Widerruf errichteten Raum». Ein Gesicht, das mit dem Ende des Gesprächs zerfällt. Physiognomie. Ein Spiel. Was so entstand, ist ein Destillat aus charakteristischen Sätzen, die zu einer poetischen Skizze des menschlichen Gesichts zusammenschiessen – archetypisch und individuell, imaginär und real gleichermassen. Gisela von Wysocki hat sich zum Medium fremder Erzählungen gemacht und die Erzähler zu Souffleuren ihrer Gesichtsgeschichte. Einer Geschichte, die ihnen, weil es die Geschichte des eigenen Gesichts ist, unheimlich vorkommen muss. Über das Gesicht zu reden, sagt eine, «ist wie das Sprechen über etwas Obszönes». Darum ist die Scham das mächtigste Gesichtsgefühl. Das Gesicht ist ein Paradox. Es ist unser Besitz, und es gehört uns nicht, es ist ein Produkt aus den Blicken der anderen, ohne die es nicht da ist. Das Gesicht ist der nackteste Ort und der maskierteste, es liegt im toten Winkel der eigenen Wahrnehmung, und es ist preisgegeben, als «wäre man von allen Seiten einsehbar, jedoch nur hinter verschlossenen Türen». Das Gesicht ist zusammengesetzt aus einem Ensemble von Haltungen, die es in der Gesellschaft verankern, doch dass es «die Mutter war, die eine Bresche schlug für alle Blicke, die noch folgen sollten», macht es zum Einfalltor für die Beleidigungen des Lebens – noch den geschlossenen Visieren sieht man ja ihre Fabrikation in dunkleren Tagen meist an. Die Lüge, sagt eine Analytikerin zu ihrem Gesicht, «ist sein Beruf. Es muss sagen, dass es uns gut geht und dass wir auf dieser Welt einen Platz gefunden haben.» Gisela von Wysocki hat rund siebzig Personen befragt und aus den mehrstündigen Sitzungen Extrakte aus wenigen Sätzen entworfen. Die Photos auf der Innenseite des Covers fügen den knappen Texten wenig hinzu, doch möchte man sie nicht missen, denn sie beglaubigen die Erzählungen, ohne mit ihrer visiblen Wirklichkeit aufzutrumpfen. Eher noch haben die Bilder selbst Teil an der Inszenierung des imaginären Gesichts. Gesichtserfindungen, Gesichtskarrieren, Gesichtsentscheidungen. «Sehr früh schon eine tiefe Ratlosigkeit: Welches Gesicht war fürs Leben geeigneter: das von Greta Garbo oder das von Immanuel Kant?» Es gibt das deutsche, das «absichtliche Gesicht» und das lautlose japanische, das das Toben der Seele, diese ewige Frage: «Wer bin ich?» nicht kennt. Der Gedanke, ungesehen sein zu wollen, hat von einem Gesicht Besitz ergriffen, oder der Mund ist zu klein geraten für die Gefühle: «Er hat es immer nur zu einem kleineren Lachen, zu einem schmaleren Lächeln gebracht. Seinetwegen kann man sich niemals ganz zu Hause fühlen in diesem Gesicht.» Für den einen ein Vorhang aus Muskeln und Haut, für den anderen Bildfläche des Lebens, für den dritten Bühne und Tarnkappe und den vierten Vorhof der Seele: So unterschiedlich und individuell diese Gesichtsgeschichten ausfallen, es sind Gattungsgeschichten, die auf das Gemeinsame verpflichten. Auf den fremden Bühnen spielt immer auch das Drama des eigenen Gesichts. Punkt, Punkt, Komma, Strich – und darunter ein Totenkopf. Gisela von Wysocki hat ein schönes, ein poetisches Buch geschrieben. Es trainiert die Aufmerksamkeit in Zeiten des galoppierenden Gesichtsverlusts. Es macht vertraut mit «dem Gedanken einer in den Personen arbeitenden Treulosigkeit» und versöhnt mit der Unfassbarkeit des fremden wie des eigenen Gesichts. Harold Brodkey hat dazu das Motto gespendet: «Denn wir bleiben lebenslang Kinder und legen bis zum Tod die Köpfe in den Nacken, um den Ausdruck auf den Gesichtern der Erwachsenen zu entziffern.» Andrea Köhler