Die Macht der Hilfsverben Ja doch, die Welt verändern. Das wollte er und schämte sich nicht dafür, vom Haben und vom Sein schrieb er und von der Chance, die es gebe, der Diktatur des Habens zu entfliehen, er schrieb es in einer Zeit, als das hässliche Wort Gutmenschentum noch nicht erfunden war, das heute alles zu ersticken vermag, was nach utopischem Denken klingt. Es war 1976, als „Haben oder Sein“ erschien, das Jahr der Dioxin-Katastrophe in Seveso, das Jahr der ersten großen Brokdorf-Demonstration: Der Psychoanalytiker, Philosoph, Sozialforscher Erich Fromm, 1900 geboren, schrieb sein spätes Werk hinein in eine Zeit, die sehr empfänglich dafür war. Jene Zeit, als auf Bücherregalen die blauen Marx-Engels-Bände zur Seite gerückt wurden, um Platz zu schaffen für die Texte der Frauen-, der Schwulen-, der Alternativbewegung; als die Bibliografien geisteswissenschaftlicher Werke zwangsläufig mit A wie Adorno begannen; Fromm stand nicht in jeder Literaturliste, doch im Gegensatz zu Adorno, seinem Mitstreiter und Rivalen aus dem legendären Frankfurter Institut für Sozialforschung, wurde er tatsächlich gelesen. Gelesen und zitiert und zu Tode paraphrasiert, seine „Kunst des Liebens“ vor allem, 1956 erschienen und millionenfach verkauft. Nicht klammern, loslassen, zu sich selber finden, jenes Siebziger-Jahre-Begleitgemurmel für Beziehungsdiskussion und Gesellschaftsanalyse, häufig fand es seine Quellen in den Schriften des Sozialwissenschaftlers Fromm, was ihm den Ruf des weichgespülten Kuschelphilosophen verschaffte, den man schließlich nicht mehr lesen mochte, sehr zu Unrecht, wie ein frischer Blick auf sein Werk erschließt. „Haben oder Sein – Die seelischen Grundlagen einer neuen Gesellschaft“ schrieb er im Tessin lebend, nach Europa zurückgekehrt aus jahrzehntelangem Exil in Mexiko und den USA, den ersten Herzinfarkt hatte er hinter sich, es blieb sein letzter großer Text. Haben und Sein – zwei substantivierte Verben, aus denen eine Weltsicht entsteht. Zwei Menschentypen, zwei Gesellschaftstypen besiedeln die Welt: Das Haben entspricht dem Geist einer nekrophilen Gesellschaft, die tote Dinge verehrt, während die biophile Gesellschaft des Seins den Menschen als ihren Mittelpunkt begreift. Fromm schrieb das in eine Zeit hinein, die begann, über die „Grenzen des Wachstums“ zu diskutieren, der erste Bericht des Club of Rome war erschienen, das britische Atomkraftwerk Sellafield, war knapp an einer Katastrophe vorbeigeschrammt, er schrieb es in einer Welt des Habens, so befand er, die ihre Lebensgrundlagen vernichtet und sich nur ändern kann, wenn sich auch die Psyche des Menschen ändert, der in ihr lebt. Scharfsichtig und sehr aktuell seine Analyse des „Marketing-Charakters“ des modernen Menschen, schon in den vierziger Jahren hat er sie entwickelt, nun führt er sie näher aus: Alles ist abgestellt auf vorübergehende Befriedigung, auf Verschleiß. Der Konsument, jener „ewige Säugling, der nach der Flasche schreit“, kennzeichnet diese Welt des Habens, kurzfristig nur identifiziert er sich mit modernen Gebrauchsgegenständen, deren wesentliche Eigenschaft es ist, überholt und beseitigt zu werden. Alles ist austauschbar, Dinge, Meinungen, Einstellungen, Freunde, Liebespartner, und der Mensch selbst beginnt sein konstantes Selbst einzubüßen, wird zur „Ware auf dem Persönlichkeitsmarkt“, die sich vorteilhaft präsentieren muss, die sich selbst verkauft: Ich bin, was ich habe, und was ich habe, hat mich. Als Vision setzt er dagegen eine Welt des Seins. Aus Marx und Buddha und Jesus und Freud speist sich diese Vision, dazu Spinoza und Meister Eckhart, er sagt: Es gibt Hoffnung, die Welt ist veränderbar. Fromm ist der Erfinder der Analytischen Sozialphilosophie, er war von 1930 an Mitarbeiter in Max Horkheimers Institut für Sozialforschung und bis zum Zerwürfnis im Exil in den späten dreißiger Jahren eine der prägenden Persönlichkeiten der Frankfurter Schule, und er hat eine andere Botschaft als die pessimistische seiner Kollegen. Spöttisch zitiert wurde im Institut gern ein Spruch, der ihn seit seiner Jugend begleitete: „Lieber Gott, mach mich wie Erich Fromm, dass ich in den Himmel komm.“ Was ungerecht ist, denn Fromm sagt nicht: Alles wird gut. Er sagt, dass „die Chancen gering bleiben, daß es zu den notwendigen menschlichen und gesellschaftlichen Veränderungen kommt“. Aber er sagt auch, beides sei im Menschen angelegt, das Sein und das Haben, und stark beeinflusst werde er durch den Charakter der Gesellschaft, in der er lebt. Beides müsse verändert werden, der Mensch und die Gesellschaft, und bei beidem lohne der Versuch – was ermutigender klingt als die Botschaft Adornos, derzufolge es kein richtiges Leben im falschen geben kann. Konturen der künftigen Gesellschaft hat Fromm entworfen, manches davon wirkt wie im 21. Jahrhundert verfasst, der Aufruf zum Verbraucherboykott als gesellschaftspolitischem Druckmittel beispielsweise, die Forderung nach einem garantierten jährlichen Mindesteinkommen für jeden Bürger, das liest sich wie Beiträge zu den aktuellen Debatten der Republik. Anderes erscheint merkwürdig heute, abwegiger, seine Idee beispielsweise, einen „Kulturrat“ ins Leben zu rufen, ein Gremium aus Vertretern der geistigen und künstlerischen Elite des Landes, aus Männern und Frauen, „deren Integrität über jeden Zweifel erhaben ist“ – würde man sie finden? Oder die Idee, ein System zur Verbreitung von echten Fakten und alternativen Denkansätzen, von „objektiven Informationen“ zu etablieren – gibt es die? Es ist mehr der Blick aufs Ganze, der bei Fromm fasziniert, sein Ansatz, nicht nur das Individuum, sondern die Gesellschaft mit dem Blick des Psychoanalytikers zu studieren, und einer der interessantesten Aspekte daran ist sein Umgang mit dem Begriff „Religion“. Fromm, ein Kind aus jüdisch-orthodoxem Hause, der sich, als er die Psychoanalyse entdeckt hat, entfernt von der Orthodoxie – er ist der Meinung, dass jede Gesellschaft eine Grundkonstante hat, ohne die sie nicht funktioniert: Sie muss „das allen Menschen eigene religiöse Bedürfnis erfüllen“. Er meint nicht ein Glaubenssystem, das notwendigerweise mit einem Gottesbegriff operiert. Er meint „jedes System des Denkens und Handelns, das dem Einzelnen einen Rahmen der Orientierung und ein Objekt der Hingabe bietet“. Hingabe an Bäume, an Idole aus Gold, einen unsichtbaren Gott. An eine Nation, an eine Klasse, eine Partei, an eine ungefesselte Marktwirtschaft, an Geld oder Erfolg, all das ist für ihn Religion, er fragt nicht „Religion oder nicht Religion“, er fragt „welche Religion“, und ob sie einen zerstörerischen Charakter für die menschliche Gesellschaft hat. Er stellt die Ketzerfrage, ob die westliche Gesellschaft wirklich so christlich ist, wie sie sich dünkt – ihn erinnert die Verklärung des Wettstreits, des Siegenmüssens in der Marktwirtschaft nicht an die Botschaft Jesu, unser Vorbild, sagt er, ist „immer noch der heidnische Held“. Seine eigene Religion, die des „radikalen Humanismus“, mag manchem gestrig erscheinen. Sie ist es nicht. Nachwort von Barbara Supp zu Haben oder Sein. SPIEGEL-Edition Band 28
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