Dass Geschichte vor allem die Gesamtheit individueller (Lebens-) Geschichten sei, ist eine Binsenweisheit. Vor allem das Fernsehen setzt zur Veranschaulichung historischer Ereignisse auf Augenzeugen, deren unmittelbares Erleben das große Ganze in all seinen Fassetten widerspiegeln soll — mit paradoxen Folgen: In nicht endenwollenden Dokumentationsreihen lauschen wir unzähligen Erlebnisberichten, bis wir die einzelnen Lebensgeschichten nicht mehr auseinander halten können, bis das Individuelle völlig hinter dem Allgemeinen zurücktritt und wir uns verwirrt doch wieder auf die abstrakte Ebene des Geschichtslehrbuchs flüchten. Müssen wir also mit Sibylle Plogstedts Im Netz der Gedichte wirklich noch ein Kapitel erlebter Geschichte aufschlagen? Ja. Auch Plogstedts Bericht ist auf seine Weise typisch oder historisch repräsentativ: Als 23-jährige erlebt sie in Prag den Einmarsch der Warschauer-Pakt-Truppen mit. Politisches Engagement im tschechoslowakischen Widerstand und die Liebe zu einem Dissidenten führen schließlich im Dezember 1969 zu ihrer Verhaftung durch die CSSR-Behörden. Doch was die Geschichte der Plogstedt von anderen Erlebnisberichten aus kommunistischen Gefängnissen unterscheidet, ist die ungeheure Intensität und Intimität, mit der die Autorin den Leser mit in einen Strudel reißt, in dem sie selber auch nach ihrer Entlassung für dreißig Jahre wortwörtlich gefangen bleibt: Nicht die Verhöre, nicht die erniedrigenden Haftbedingungen oder die schlechte Versorgung sind es, die Sibylle ein normales Leben nach der Haft unmöglich machen. Im Zentrum des Buches steht die psychische Gebrochenheit, die der Gefängnisaufenthalt hinterlässt. Sibylle wird eine Zellengenossin zugewiesen, die ihr zunächst lange vermisste Gefühle wie Vertrautheit, Geborgenheit und Wärme vermittelt — bis ein abrupter Verhaltenswandel Sybille an allem zweifeln lässt, worauf sich ihr Widerstand und ihr Durchhaltevermögen bisher gründete. Fesselnd wird geschildert, welche Reflexionsspiralen das scheinbar wahnsinnige Gebärden der Zellengenossin in Sibylle auslöst — bis schließlich das eigene Urteilsvermögen selbst infrage steht. Ist Marta schizophren? Wird sie durch die Gefängnisleitung unter Drogen gesetzt? Oder spielt Marta nur die Verrückte? Arbeitet sie für die Staatssicherheit, um Sibylles Widerstand zu brechen? Auf welche Indizien ist Verlass, wenn keine der Koordinaten mehr feststeht? Völlig verstrickt in ein unentwirrbares Netz aus scheinbaren Beweisen, Gegenbeweisen, Vermutungen, Andeutungen können schließlich weder Sibylle noch der Leser mehr entscheiden, was wirklich passiert und was einer Einbildung geschuldet ist. Obwohl Sibylle Plogstedt ihr Hauptaugenmerk auf die Beziehung zu Marta richtet, erfahren wir viel vom größeren Kontext, in dem diese Geschichte steht: Von der teilweise naiven Haltung der jungen SDS-Aktivistin Sibylle, von den Konflikten innerhalb der westdeutschen Linken, von der Stasi, die Sibylle im Anschluss an ihre Rückkehr nach Berlin anzuwerben versucht, und schließlich auch vom aktuellen Umgang der Tschechischen Republik mit der kommunistischen Vergangenheit. Insbesondere der letztgenannte Punkt wirft ein bezeichnendes Schlaglicht darauf, wie paradox und spannungsreich das Verhältnis von individuell erlebter Geschichte und der Schulbuch-Historiografie tatsächlich ist. Sibylle Plogstedt hat sich aus therapeutischen Motiven für eine radikal individualistische Perspektive entschieden. Und bringt uns damit einen Teilaspekt der jüngsten europäischen Geschichte sehr viel näher als es viele wissenschaftliche Abhandlungen können. –Anneke Hudalla