Der Schein trügt nie Theatralität als Modell für die Kulturwissenschaften? In einer Zeit, in der das Theater in seiner traditionellen Form ums Überleben kämpft, breitet es sich, als Metapher verstanden, in allen möglichen Bereichen aus. Vor allem der Begriff der Theatralität hat Hochkonjunktur. Er wird zum Paradigma für die Kulturwissenschaften (Philosophie, Ethnologie, Soziologie, Publizistik usw.) erhoben. So beschloss die Deutsche Forschungsgemeinschaft (DFG) im Jahre 1995, ein Schwerpunktprogramm «Theatralität. Theater als kulturelles Modell in den Kulturwissenschaften» ins Leben zu rufen. In jährlich stattfindenden Kolloquien sollen die Bereiche Inszenierung, Performance, Korporalität sowie Wahrnehmung unter dem gemeinsamen Aspekt der Theatralität beleuchtet werden. Der erste Band mit dem Titel «Inszenierung von Authentizität», herausgegeben von Erika Fischer-Lichte und Isabel Pflug, liegt nun vor. Es handelt sich um einen Sammelband mit Aufsätzen, die der Inszenierung von Authentizität in den Bereichen Kunst, Medien sowie Ethnologie und Wissenschaft gewidmet sind. In der Einleitung führt Erika Fischer-Lichte aus, wie unsere Gegenwartskultur sich zunehmend «nicht mehr in Werken, sondern in theatralen Prozessen der Inszenierung und Darstellung» konstituiere. Das Spektakuläre, die Kultur der «Events», mache sich breit. Das «Sich-in-Szene-Setzen» wird zum gemeinsamen Nenner von Firmen, Parteien, Kirchen, Sportklubs usw. Es geht dabei wesentlich um das kalkulierte Schaffen eines positiven Images von sich selbst, das man öffentlich zur Schau stellt. Die Wirklichkeit scheint sich dabei immer mehr zu verflüchtigen. Sie wird als Inszenierung erlebt. «Reality» – ein Spiel? Als Gegenstück zu dieser Ent-wirklichung der gesellschaftlichen und kulturellen Realität bildet sich aber auch eine fieberhafte Suche nach Authentizität jeglicher Art. Der vorliegende Sammelband versucht, diese heute allgemein vorherrschende Tendenz zur Inszenierung und Ästhetisierung der Wirklichkeit zu hinterfragen. Im Zentrum der verschiedenen Aufsätze stehen die beiden Begriffe Inszenierung und Authentizität, die normalerweise Gegensätzliches bedeuten. Dem Schein und der Täuschung stehen das Sein und die Wahrheit gegenüber – eine uralte Unterscheidung, am Grund der westlichen Kultur und Philosophie angesiedelt. Sie mit den Mitteln des Theaters anzugehen, heisst, eine ebenso alte Strategie der Infragestellung und der Verschränkung dieser Gegensätze aufzugreifen. Sein und Schein In der Tat besitzt das Theater einen hohen Grad an Reflexion nicht nur über die auf der Bühne dargestellten Themen, sondern auch in actu über deren Darstellung selbst. Alles, was auf der Bühne erscheint, ist in sich verdoppelt. Diese innere Distanz aller theatralischen Zeichen erlaubt es den Akteuren des Theaters (Autor, Regisseur, Schauspieler usw.), anders mit der Trennung von Sein und Schein umzugehen, d. h., sie immer schon in ihrer gegenseitigen Abhängigkeit darzustellen. Wie aber kann dieses kritische Potenzial des Theaters auch für ein theoretisch-wissenschaftliches Denken fruchtbar gemacht werden? Diese Frage etwa stellt sich bei der Tätigkeit des Ethnologen, der ein sehr lesenswerter Aufsatz von Klaus-Peter Köpping und Burkhard Schneppel mit dem Titel «Die Umkehrung des Blicks» gewidmet ist. Der Ethnologe ist bei seiner Arbeit nicht nur das beobachtende und forschende Subjekt, sondern er selbst wird auch zum Objekt der Beobachtung. Durch die Umkehrung des Blicks, den die von ihm beobachteten Menschen fremder Völker auf ihn als Fremden werfen, erfährt er eine Art von theatralischer Verdoppelung am eigenen Leib. Der wissenschaftlich und scheinbar unbeteiligt Beobachtende merkt dabei, dass er auch zum Akteur wird und dass er ohne aktive Begegnung mit dem Fremden nicht zu einem vertieften Verständnis der fremden Kulturen kommen kann. Diese Begegnung verändert den Ethnologen in seinem Selbstverständnis. Er wird seinen begrifflichen Apparat immer wieder der dialogischen Erfahrung zwischen Eigenem und Fremdem anpassen müssen. Die reflexive Dimension des Theaters sowie seine Nähe zum theoretischen Denken ist auch Thema eines Aufsatzes von Anna Bergmann, der vom Theatrum anatomicum, den während Jahrhunderten öffentlich praktizierten Leichensezierungen, handelt. Diese fanden bekanntlich seit dem 16. Jahrhundert in kleinen amphitheaterähnlichen Räumen statt, in denen mit Vorliebe während der Karnevalszeit einem auserwählten Publikum anatomische Studien vorgeführt wurden. Die Enttabuisierung der ganzheitlichen Leibvorstellung und damit verbunden die Ausbildung der naturwissenschaftlich betriebenen Medizin waren demnach eingebunden in eine Form von Theatralisierung, die dem Beobachter, aber auch dem Anatomen Distanznahme zu den schreckenerregenden Vorgängen ermöglichte. Neben der reflexiven Dimension besitzt das Theater auch eine illusorische und täuschende Kraft. Sie findet in unseren Tagen vor allem in den Medien, der Werbung und auch der Politik ihre ausgeklügelte, operative Verwendung. Diesem Themenkomplex sind mehrere Aufsätze gewidmet, die das Problem der «medialen Theatralität» aufwerfen. Schiebt sich ein Medium wie etwa das Fernsehen zwischen Wahrnehmung und Wirklichkeit, steht die Authentizität der wahrgenommenen Wirklichkeit in Frage. Diese wird in hoch technisierten und professionalisierten Prozessen fabriziert und inszeniert. So etwa die Glaubwürdigkeit eines Politikers, der neben der Ausübung seines politischen Mandats auch sein Image gezielt pflegen muss. Der Unterschied zwischen ihm und dem Schauspieler besteht darin, dass die theaterhafte Darstellung des Politikers nicht erkennbar sein darf. Das politische Repräsentationstheater muss somit die reflexive Distanz, die dem Theater innewohnt, unterdrücken. Dadurch besteht die Gefahr, dass die Authentizität des politischen Geschehens immer mehr zu einem blossen Medieneffekt verkommt. Reflexion und Manipulation Der zentrale Unterschied zwischen medialer und im eigentlichen Sinne theatraler Inszenierung besteht darin, dass die einzelne szenische Aufführung einmalig und nicht reproduzierbar ist. Die körperliche Präsenz der Schauspieler auf der Bühne ist real, auch wenn die Rolle, die sie spielen, imaginär ist. Diese Verflechtung von realer und imaginärer Präsenz im Körper des Schauspielers macht wesentlich das kritische Potenzial des Theaters aus. Einerseits erinnert sie den Zuschauer daran, dass die Materialität des Körperlichen auch geistig-imaginäre Dimensionen aufweist, und andererseits, dass das Ideelle immer auch seinen körperlichen Ausdruck sucht. Genau dieses kritische Element des Theaters entfällt bei der medialen Theatralität massengerechten Zuschnitts. Ihre Produkte entspringen einer ständigen Rückkoppelung zwischen medialer Aufzeichnung und sozialer Realität. Mass aller Dinge sind die Einschaltquoten, also der unternehmerische Erfolg der entsprechenden Fernsehstation. Ziel ist die Sensibilisierung und Konditionierung der Wahrnehmung des Zuschauers, die von einem Kult-Marketing geschickt auf Trab gehalten wird. Dieser wesentliche Unterschied zwischen medialer und theatraler Inszenierung fällt bei den meisten Aufsätzen des Sammelbands unter den Tisch. Das liegt an der Wahl des Begriffs der «Theatralität», der im Zentrum des gesamten Forschungsprojekts der DFG steht. Wird er verstanden als «allgemein verbindliches Gesetz der schöpferischen Transformation der von uns wahrgenommenen Welt», als ein «Kultur erzeugendes Prinzip», so verliert er vermutlich nicht nur seine Konturen, sondern büsst vor allem das kritische Potenzial ein, das ihn in die Nähe der theoretischen Erkenntnis bringt, wo er diese auch zu kritisieren vermag. Mit andern Worten, wenn Erika Fischer-Lichte in der Einleitung behauptet, dass «nur in und durch Inszenierung» Sein, Wahrheit und Authentizität für uns gegenwärtig sein können, dann ist die Frage erlaubt, von welcher inszenierten Position aus die Untersuchungen zur Inszenierung von Authentizität geführt werden können, um den Kriterien wissenschaftlicher Wahrheitssuche zu genügen. Marco Baschera
— Dieser Text bezieht sich auf eine vergriffene oder nicht verfügbare Ausgabe dieses Titels.