Marcel Beyer baut seinen neuen Roman um die Lebensdaten einer historischen Person: Sein Held Ludwig Kaltenburg hat vieles mit dem österreichischen Verhaltensforscher und Nobelpreisträger Konrad Lorenz gemein. Beide hatten eine Professur in Königsberg, sie dehnten ihre tierpsychologischen Lehren auf den Menschen aus, arbeiteten der Rassenideologie der Nazis zu und wurden zum Ende ihres Lebens von dieser Vergangenheit eingeholt. Dazu gibt es weitere Figuren, die an reale Personen angelehnt sind – etwa an den Tierfilmer Heinz Sielmann oder den Künstler Joseph Beuys. Und es gibt den Icherzähler Hermann Funk, einen Ornitologen, der als Kind bei der Bombardierung Dresdens seine Eltern verliert und zum Ziehsohn Kaltenburgs wird. Vom Nationalsozialismus über die DDR bis zur Wendezeit ist „Kaltenburg“ eine eigenwillige und hochintelligente Auseindersetzung mit der deutschen Geschichte des 20. Jahrhunderts. Doch dabei geht es Beyer nicht um die Aufdeckung historischer Zusammenhänge oder um Schuldzuweisungen. Durch seinen Icherzähler wird der Roman zu einer Studie über die psychologische Wahrnehmung von Geschichte und stellt die Wahrhaftigkeit von Erinnerungen in Frage. Dabei gelingen Beyer unvergessliche Bilder – wie die Beschreibung der verbrannten Vögel, die in der Dresdener Bombennacht vom Himmel regnen: „Ich rannte zwischen den Bäumen und Kratern und dann den Menschen auf der Lichtung umher, doch je länger ich lief, um so verzweifelter erschien mir meine Lage, überall kamen diese verbrannten Brocken herunter, und selbst, wenn ich glaubte, einen Moment lang verschnaufen zu können, unter der umgelegten Wurzel einer großen Eiche, im Schatten einer freistehenden Mauer, hörte ich sie überall um mich herum auf den Boden aufschlagen, als kämen sie näher, als kreisten mich die tot aus dem Himmel fallenden Vögel ein.“ (cs)
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