In der deutschen Pädagogik ist Professor Hartmut von Hentig seit Jahrzehnten wohl der Bedeutendste — und zugleich einer ihrer schärfsten Kritiker. Nach Streitschriften wie „Die Schule neu denken“ als „Übung in praktischer Vernunft“ (1993) liegt hier seine jüngste Attacke vor. Ausgerechnet von Hentig, der mit seiner Bielefelder Laborschule durchaus für Experimente steht (Tierpflege und Kochen gleichrangig neben Rechnen und Schreiben, Zensuren erst in den letzten Schuljahren), ausgerechnet er tadelt nun das Schlagwort der pädagogischen Spielwiesen schlechthin: Kreativität. Doch Hentig ist Humanist. Und er hat etwas gegen Mode-Erziehung. Deshalb betrachtet er die lateinischen Wurzeln des Wortes und notiert mit Abscheu, wie ein an den urmenschlichen Schöpfungsakt gemahnender Begriff pädagogische Konzepte sprachlich tunen soll — als neues, aber viel zu anspruchsvolles Etikett auf alten Ideen. Hentig berichtet von dem Unterricht an einer „sympathischen Gesamtschule“, vorgeführt bei einem internationalen „Kreativitätskongreß“. Dort „sah ich nichts“, bekundet der 73jährige, „was ich nicht in meiner eigenen Schulzeit auch schon hätte erleben können.“ Es sei sogar anzunehmen, daß das verschulte Zeichnen und Malen das spontane Zeichnen und Malen verdirbt, „so wie verordnete Lektüre das Lesen und veranstaltetes Spielen das Spiel.“ Kreativität könne nicht erzeugt werden, sondern passiere. „Spiel ist Spiel, wenn es sich selbst gehört, und nicht dem Einüben von ‚problemlösendem Verhalten‘ oder der ‚Erzeugung von Interaktionsbereitschaft‘ oder der ‚Entfaltung und Lockerung der Phantasie‘.“ Hentig liefert auch Sprachkritik und einiges zur Entstehung der Bezeichnung. Dabei deutet er zwar recht anmaßend an, er sei der erste Kritiker des Wortes („niemand kritisiert es“), zeigt sich aber andererseits unprätentiös bis hin zum Bekenntnis, „weder in der deutschen noch in der amerikanischen Literatur“ zur Geschichte der Kreativität „wirklich bewandert“ zu sein. Das wäre aber kein Mangel, denn Etymologie ist wahrlich nicht das Hauptanliegen seines Essays. Zu empfehlen ist es allen, deren Glauben an dieses „Heilswort unserer Gesellschaft“ noch stark ist. –Frank Rosenbauer
— Dieser Text bezieht sich auf eine vergriffene oder nicht verfügbare Ausgabe dieses Titels.