Spätbarock und präpotent Feridun Zaimoglu im Zeichen des Unterleibs Feridun Zaimoglu, geboren 1964 im türkischen Bolu, ist ein deutscher Schriftsteller aus Kiel. Hier lebt er seit Menschengedenken. Hier liest er seine Morgenzeitung zum Kaffee. Blättert gähnend in den Paperbacks der Kollegen von der Popfraktion. Was für pappsatte Schwätzer, denkt er. Nicht eine feurige Zeile. Das ganze lieblos hochgezogene Zeugs welkt doch beim ersten kleinen Nachtfrost des Lesens dahin. In der Magengegend hüpft etwas wie Schadenfreude und Mitleid, dann ist es heraus: «Knabenwindelprosa». Was für ein Elend. Das Glück dieser Konformisten ist das Elend der Literatur. Umgekehrt, aus dem Elend dieser Gesellschaft, das mit Händen zu greifen ist, musst du was Herzergreifendes machen. So rum wird ein Schuh draus. Diesen Schuh zieht Zaimoglu sich an. Er geht zu seinen Kanaken. So nennen sich die Nachkommen derer, die man längst nicht mehr gerufen haben will und die man schon gar nicht gerufen hat. Die man hängenlässt und die jetzt rumhängen. Gelegenheitsstricher, Fixer, arbeitslose Dichter, Barfrauen, Studentinnen und Müllkutscher. Alle mit ’ner ziemlichen «Scheisswut» im Bauch auf das «Teutschvolk», die «Alemannen», für die man der «Kümmel» ist oder wahlweise der «liebe türkische Mitbürger», was noch schlimmer ist. Dann schon lieber Kanake. Poetisches Patent Zaimoglu hört ihnen zu. Handfeste Geschichten sind das, vom grobschlächtigen Leben in einer unfreundlichen Wirtsheimat. In den Pupillen, von den Zähnen seiner Freunde blinkt das Gold der Dichtung, die er daraus machen wird. Er spannt ein weites Fangnetz der Empathie aus. Da poltert alles rein: die löwenmäuligen Flüche und lumpenproletarischen Sprüche, das «ganze gepresste, kurzatmige, hybride Gestammel», die noch ungeweinten Tränen des Sozialkitsches, die blumigen Schmerzen von tausendundeiner Kränkung. Und dann, zu Hause: die alchimistische Prozedur. Das Herzblut der Kumpane wird mit dem eigenen vermischt. Von allen erreichbaren Grossen der Literatur einen Tropfen dazugegeben. Und das alles verbindet sich ohne Murren zu einer kunstvollen Promenadenmischung aus Proll und Poesie. Gryphius und Gosse. Zorro und Wozzek. Prophetendonner und Präpotenz: der sogenannten Kanak Sprak. Zaimoglus poetisches Patent. In diesem zügellosen Idiom hat Feridun Zaimoglu nach mehreren Bänden mit «Kanaken»-Geschichten jetzt seinen ersten Roman geschrieben: «Liebesmale, scharlachrot». Und zwar in einer Form, die seinem Talent nicht den geringsten Widerstand entgegensetzt: als Briefroman. Es wird also 300 Seiten lang geredet, Herz ausgeschüttet auf Papier. Zwar hat man noch nicht davon gehört, dass sich halbwüchsige liebestolle Türken im schönsten Sommerwetter ellenlange Kummerbriefe schreiben, wie Goethes Werther einst an Wilhelm. Aber diese Therapieform aus dem Zeitalter der Empfindsamkeit erfüllt auch bei Serdar und Hakan, zwei jungen «Kanakstern» aus Kiel, aufs Schönste den Zweck, ihre schwierigen Lebensabschnittsprobleme zu sortieren. «Hochverehrter Kumpel, mein lieber Hakan, Sammler der heiligen Vorhäute Christi», so spätbarock und präpotent wendet sich der Ton der Korrespondenz schon gleich von Goethe ab. Aber das will nichts heissen. Ein «stürmisches Herz» wie Werther hat Serdar auch, und ein Poet ist er selbstredend. Vor den Komplikationen zweier Liebschaften in Kiel hat er sich ins elterliche Domizil an der türkischen Ägäis geflüchtet. Abstand gewinnen, Sonne und Meer geniessen will er hier, doch Sorgen und Gewissensbisse sind ihm nachgereist. Keine Anke, aber der Gedanke an Anke. An Potenznot und lästige Beziehungsgespräche, an sein «grossflächiges Scheitern» als Liebhaber und Dichter. Um die Haikus, die ihm wie modrige Pilze im Munde zerfallen, ist es vielleicht nicht schade. Auch will er in Liebesdingen vorerst durchaus «nicht auf Sendung gehen», wie er an Hakan schreibt. Aber dass sich rein gar nichts regt, dass sein «Osmane», sprich Geschlecht, beim Anblick der Dorfschönheiten ruht «wie ein Bulettenwender im Besteckkasten», das beunruhigt ihn doch. Freund Hakan sieht darin die angemessene Strafe für jemanden, der «inner Brustgrube nicht n Herz, sondern n Fliegenleimstreifen» hat, an dem die Frauen scharenweise kleben bleiben. Ach ja, höhnt er, «hat’s dich volle Breitseite erwischt, du armes Schwein, du Klemmpreusse und Lackknaller». Rau, aber herzlich geht’s zu in dieser Bruderschaft zweier ungleich Unbeholfener, deren doppelte deutsch-türkische Heimatlosigkeit ihnen immerhin zu gesteigertem Witz und Ausdruck ihrer selbst verhilft. Hakan, der Pechvogel, dem zu Hause in Kiel kein Job, kein kleinkrimineller oder sonstwie Achtung gebietender Coup gelingen will und der bei einer angeschmachteten Blondine gerade mal zum Salatessen kommen darf, wovon er wortreich Bericht erstattet, dieser selber Unberatene spielt jetzt den Ratgeber in eroticis. Folgenreicher ist, dass er Serdars Refugium an die Ex-Freundinnen in Kiel verrät und damit den Stress, den der Briefwechsel abbauen soll, tatkräftig vermehrt. Bevor sie in persona kommt, kommen die Briefe der Nichtmehrgeliebten und die einer Etwasgeliebten. Mit diesem Stimmenzuwachs entfaltet das perspektivische Verfahren des Briefromans seine ganze Pracht als ein lügendetektorisches nach Art der Gesangsensembles in «Così fan tutte». Alle schwadronieren gleichzeitig versetzt aneinander vorbei, ein Katzenjammern reuiger Sünder, klagend Anklagender, wehleidig Liebender, die alle begehren, nicht schuld zu sein. «Eine Art Geschichtsbewältigung» per Post nennt Serdar diese Komödie, die uns von der politischen Bühne her auch unter dem Label «Vergangenheitsbewältigung» oder «Wiedergutmachung» nur allzu vertraut ist. Manischer Osmane Zumindest für Serdar nimmt der Identitätskrisen-Sommer doch noch ein gutes Ende. Es gelingt ihm mit Hakans Hilfe, die anklammernde Anke abzuschütteln und mitten im Revier des mächtigen Dorfpaschas und Silberrückens Baba einen neuen erotischen Handlungsstrang mit der schönen Türkin Rena «aufzuziehen», die ihm während einer nachmittäglichen Skorpion-Jagd unter sengender Sonne mit ihrem spitzen Schrei das Leben rettete. «Es tut sich etwas in mir», depeschiert er an Hakan, «die alte Gemütlichkeit ist dahin, und das alte Asien, das der Wülste und Wollüste . . . der Messermeuchler und Haschischordensherren regt sich nun in einem Leib, den du als einen allen Orientschmucks beraubten Kotkäferpanzer denunziert hast. Rena ist mein Licht aus dem Osten, sie hat sich mir versprochen unter der Palme und angesichts des mondgeleckten Wassers.» Auch wer Adoleszenz-Romanen normalerweise nicht viel abgewinnen kann (also einem grossen Teil der «jungen» deutschen Literatur), wird sich dem Charme dieser furiosen Parodie eines ins Kanaken-Milieu zeitversetzten empfindsamen Romans, aber auch des exhibitionistischen Seelenkitsches neuerer Provenienz kaum entziehen können. Dieser rappende, durch alle Stillagen von Goethe (Serdar) bis Gosse (Hakan) elegant und geschmeidig zappende Sound der Kanak Sprak ist eine einzige Feier der Sprache. Seit Arno Schmidt hat wohl keiner mehr ein so produktives Schindluder mit der Sprache getrieben, ihren Acker so umgekrempelt und durchlüftet wie dieser manische Kieler Osmane. Alles Sinnliche, die Feineinstellung der optischen Linse ist bei Arno Schmidt sicher noch schärfer. Die Ironie raffinierter mit ihren kurzen Blackouts träumerischer Absenz. Aber man vergleiche nur die Küsse in den Binsen am See in «Seelandschaft mit Pocahontas» mit denen, die Serdar und seine «Skorpion-Amazone» am Ende tauschen – das ist von der Erzähltechnik her ein Zungenschlag. Ein kleiner philologischer Speichelabstrich genügt, um zu sehen: Vom Poetischen her kommen beide aus demselben Stall. Gabriele Killert
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