Wenn Bianca ein Fisch wäre, dann wäre sie gerne ein Köderfisch. Einer von denen, den es nur in Anglergeschäften gibt und die dazu benutzt werden, ihre im See lebenden Eltern zu fangen. Das jedenfalls gibt die Ich-Erzählerin von Roberto Bolaños fulminantem Lumpenroman im Fragebogen einer Zeitschrift an, die an ihrem Arbeitsplatz herumliegt. Bianca arbeitet in einem Friseurladen in Rom. Und tatsächlich wird sie, ohne es zu wollen, schließlich selbst zum Köderfisch. Seit ihre Eltern bei einem Autounfall starben, ist Bianca Waise. Gemeinsam mit ihrem Bruder, der in einem Fitnessstudio aushilft, lebt sie ein sinnleeres Leben zwischen TV-Shows und Pornofilmen. Dann ziehen zwei ebenso farblose wie zwielichtige Gestalten in ihre Wohnung, ein Bologneser und ein Nordafrikaner, besetzen das Ehebett und nehmen die Rolle der Eltern und der Liebhaber ein. Und Biancas Bruder macht über das Fitnessstudio Bekanntschaft mit dem ehemaligen Bodybuilding-Meister und Sandalenfilmstar Maciste, einem inzwischen erblindeten Ungeheuer, das Minotaurus gleich in einer labyrinthischer Villa haust und dessen sagenumwobenen Tresor Bianca ausfindig machen soll. Aber Bianca verliebt sich in den traurigen Mann – und sorgt am Ende doch fast dafür, dass er in einer Katastrophe ums Leben kommt. Seit dem sensationellen Erfolg des Nachlassromans 2666 gilt Roberto Bolaños auch hierzulande als einer bedeutendsten spanischsprachigen Autoren an der Schwelle zum 21. Jahrhunderts. Lumpenroman bestätigt diesen Ruf. So zauberhaft hoffnungslos, so märchenhaft desillusionierend und sprachlich schön hat schon lange keiner mehr über die verlorene Jugend, sexuelle Leere und Erlösungsphantasien geschrieben. Lumpenroman ist ein dünnes Buch. Und doch ersetzt es ganze Bibliotheken. — Thomas Köster