Kaum zurück von der Reise nach Trulala, einem Seelentrip tief ins russische Fernweh, durchstreift der pfiffige Russe nun forschergleich seine neue Wahlheimat. Als Moskauer Großstadtpflanze aufgewachsen, bekennt Kaminer reumütig zerknirscht, während den Jahren seines Aufenthaltes in Deutschland außer Berlin noch nichts gesehen zu haben. Die Stunde der deutschen Provinz und des Regionalexpresses schlug und Wladimir Kaminer kam, sah — und notierte! Gleich im süddeutschen Raum findet sich ein desorientierter Bahnkunde auf einer dschungelhaften Nebenstrecke wieder. Die Stationsdurchsagen erfolgen durch einen offensichtlich Maultaschen kauenden Lokführer, dessen Dialekt selbst den deutschkundigen Kaminer tief russisch anmutet. Erst der „Weikersheimer Quittenschnaps“ am Zielort stellt verloren gegangene Vertrautheit schnell wieder her. Im weltoffenen Tübingen kündigt ihn das Schwäbische Tageblatt mit der historisch problematischen Grußformel „Der Russe kommt!“ an. Auch die sich anschließende Diskussion mit dem wissbegierigen Chefredakteur über Russlands Verhältnis zu Hölderlin lässt den erschöpften Reisenden nicht zur Ruhe kommen. Chemnitz, der Heimat des Gartenzwergs, knapp entronnen, stellt sich in Kaiserslautern als nächstes die Schicksalsfrage nach einem bratenfettgeruchsfreien Hotel für den ebenfalls anwesenden Dichterkollegen Harry Rowohlt. In Marburg-Biedenkopf, dem „Herz Mittelhessens“, belehrt man den unkundigen Russen barsch, dass die lokaleigenen Küchenschaben von russischen Studenten eingeschleppt wurden. Armer Kaminer! Waldbröl, „das Ende der Geografie“, die Eulenspiegelstadt Mölln — Wladimir Kaminers geschulter, gespielt naiver Blick für die Absonderlichkeiten des Alltags, entlarvt ein oft zum Biegen komisches menschliches und kulturhistorisches Kuriositätenkabinett, findet aber auch durchaus zufriedene und bekennende Provinzler, die ihre Heimat um keinen Preis gegen Berlin eintauschen würden. Ein Tröstliches hatte die Odyssee. Selbst in Momenten größter Irrung und Wirrung fand sich eine nette Buchhändlerin oder ein sonstiger Literaturfreund, Wladimir Kaminer den rechten Weg zu weisen. War doch eigentlich ganz nett bei uns, oder? –Ravi Unger