Immer wieder montags . . . Erich Loests Roman «Nikolaikirche» Herbst 1989. Wochenlang verzeichneten die Kalender in Leipzig nur Montage. Montags begab sich dort das Unerhörte: In den Kirchen wurden Reformen herbeigebetet. Kerzen brannten überall. Menschen fanden zueinander, um über Frieden und Abrüstung zu diskutieren. Leipzigs Montage verhiessen einen Neuanfang. Die Pfarrer der Stadt erteilten dem in Agonie liegenden Honecker-Staat die letzte Ölung; aber sie waren Protestanten genug, um ihm die Absolution zu versagen. Leipzig nannte sich in jenen Wochen Messe- und Montagsstadt. Christoph Hein sprach sogar von der «Heldenstadt der DDR». (Man muss ihm dieses allzu verfängliche Wort nachsehen; ihn beschäftigte damals die heldenmütige Artus-Sage nachhaltig.) Montagsgottesdienste, Bach-Choräle, Märsche auf dem sechsspurigen Strassenring um die Innenstadt: Die sanfte Revolution kam in Gang, gewaltlos. Die Betriebskampftruppen und die Volkspolizei standen jedoch bereit, vor allem am 9. Oktober, dem Montag der Montage. Und mit ihnen die Panzer der Nationalen Volksarmee. Eine Hubschrauber-Staffel wartete in Cottbus auf den Einsatzbefehl an diesem längsten aller Montage in der jüngsten Geschichte dieser Stadt. Dass er ausblieb, wohl auf Grund von Gorbatschews Intervention, bescherte den Leipzigern eine so nie dagewesene Abendfeier an jenem Montag: Ihr Beten war endgültig zu einem Politikum geworden; ihre Friedensworte hatten den Einheitspartei-Jargon zerbröseln lassen. Ist das ein Romanstoff? Haben nicht Reportagen, unzählige Augenzeugenberichte, flink geschriebene Kommentare und zeitgeschichtliche Analysen diese Begebenheiten mehr als ausgiebig aufgearbeitet, von der Bilderflut zu schweigen, die uns TV-Zeitzeugen scheinbar zu Mitläufern bei den Montagsdemonstrationen machte? Ohne vom Anspruch besessen zu sein, den grossen Einheitsroman schreiben zu wollen, hat Erich Loest mit seinem jüngsten Erzählwerk, «Nikolaikirche», am Beispiel der Familie Bacher/Protter, einer Mischung aus parteigläubigen Funktionären und Abtrünnigen, SED-Spiessern und frustrierten Aktivistinnen, die verschlungenen Wege, die zum 9. Oktober führten, nachzuzeichnen versucht. Mit dem ihm eigenen nüchternen Stil, der humorvoll-ironische Sequenzen ebenso erlaubt wie den inneren Monolog und knappen Bericht, ist es Loest gelungen, ein vielschichtiges Erzähldokument über die brüchige Innenwelt der ehemaligen DDR vorzulegen. An keiner Stelle seines Romans gibt Loest der Versuchung nach, die Ereignisse um den 9. Oktober und sein geschichtlich belastetes Personal zu mythisieren, zu entschuldigen oder zu verherrlichen. Statt dessen berichtet er aus der Perspektive der Täter, der Mitläufer, der Opfer und Opponenten. Als Erzähler hat Loest einen weiten Weg hinter sich. Von seinem einstigen trotzigen Subjektivismus ist in diesem Roman so gut wie nichts mehr zu spüren. Das fast lutherische Pathos von einst hat der Erzähler der «Nikolaikirche» zwar noch in sich, aber er geht nonchalanter mit ihm um. Man darf vermuten, dass Loests Begegnung mit seinem überwachten Ich in jenem «rugbyballartigen Stasi-Gebäude», auf das er auch in seinem jüngsten Roman immer wieder zu sprechen kommt, sein Verhältnis zum betont subjektiven Erzählen verändert hat. Er hat selbst darüber Auskunft gegeben in seiner Erzähldokumentation «Der Zorn des Schafes» (1990), einer novellistischen «Überprüfung» seiner Stasi-Akte. Die Ironie, nicht der Zynismus bestimmt inzwischen sein Erzählen, eine sympathische Ironie des Allzumenschlichen, die auch poetische Stellen zulässt. Die sinnigste im Roman «Nikolaikirche» findet sich, als der Erzähler einen einsamen Spaziergang Astrid Protters beschreibt, den eigentlichen Wendepunkt des Romans und ihrer inneren Entwicklung von einer gut sozialistischen Städteplanerin zu einer Montagsbeterin. Enttäuscht von der Selbstzufriedenheit der ihr übergeordneten Funktionäre entdeckt sie eine neue Form von Solidarität und spürt in sich eine bislang unbekannte Hoffnung auf Entgrenzung aufsteigen: «Möwen waren Kameraden . . . Seestadt Leipzig. Kein Raum für Weinerlichkeit. Es wäre gut, Möwe zu sein . . . Wir Möwen werden uns Elter und Pleisse hinaufarbeiten zu den Wismuthalden und das Uranzeug auffressen, unten die Ratten, oben wir. Ein Sternzeichen werden wir uns erobern, das des Löwen am besten, ich bin Möwe, wer ist mehr . . . Möwen standen in langer Reihe auf lilabraunen Uferstreifen. Die Möwe Astrid konnte sich als eine unter vielen fühlen, nicht verfolgt ihrer Buntheit wegen.» Stellen von solcher Dichte finden sich in Loests neuem Roman jedoch eher selten. Sie dürften in den meisten Fällen seiner erzählerischen Schnitt-Technik zum Opfer gefallen sein. Zwar hat das Schlaglichtartige dieser Prosa durchaus seine Berechtigung: Im Rückblick vergegenwärtigen wir Medienzeitzeugen uns die Geschehnisse um 1989 gleichfalls sprunghaft: In der Erinnerung jagt ein Bild das andere. Man kann sich beim Lesen der «Nikolaikirche» des Eindrucks nicht erwehren, Loest habe bei der Konzeption seines Romans zu viel an dessen Drehbuchversion gedacht. Das geht auf Kosten der inneren Entwicklung seiner Charaktere. Wirklich plastisch wird in diesem Roman am ehesten Astrid Protter, diese – paradox gesagt – unverhoffte Hoffnungsträgerin in Loests Prosa. Leipzig liegt für sie wie das Böhmen Shakespeares und Bachmanns – am Meer. Auf ihrem binnenländischen Küstenspaziergang möchte man sie gerne länger begleiten, als der Erzähler dies zulässt. Rüdiger Görner
— Dieser Text bezieht sich auf eine vergriffene oder nicht verfügbare Ausgabe dieses Titels.