Die Augen weit genug geöffnet? Vier schnell produzierte Bücher über Stanley Kubrick «Über Stanley Kubrick ist ziemlich viel Quatsch geschrieben worden» – so vielversprechend fängt eines der kürzlich auf dem deutschen Markt erschienenen Bücher über Kubrick an. Doch während man noch hofft, endlich keinen Quatsch über Kubrick zu lesen, begegnet man drei Dutzend Zeilen später dem Satz: «In Deutschland gibt es nur einen Mann, der mit Kubrick vergleichbar ist: Autor / Regisseur / Produzent Helmut Dietl.» Das Buch, in Windeseile geschrieben, stammt von Rolf Thissen und heisst im Untertitel «Der Regisseur als Architekt» – wovon sich dann in den annähernd 290 Seiten Text so gut wie nichts wiederfindet. Anderseits hat das Werk im Taschenbuchformat den Vorteil, recht simpel geschrieben zu sein und ohne viele Umschweife zu schlichten Einschätzungen zu kommen. Ein Beispiel unter vielen: «Trotz seiner Überlänge von 153 Minuten ist ‹Lolita› ein ungeheuer rasanter Film, in dem es nicht die geringsten Längen und keinerlei Leerlauf gibt.» Immerhin: Wer sich schnell und anspruchslos informieren will, wird redlich bedient, vor allem, was den zeitgeschichtlichen Hintergrund einzelner Filme angeht, wozu auch Interviews mit den Kubrick-Mitarbeitern Jan Harlan und Andrew Birkin beitragen. Neben blass gedruckten Photos aus den Filmen gibt es blässliche Repros von Drehplänen und einen Bericht des Autors über eine persönliche Beziehungskatastrophe, recht bescheidene filmographische Angaben und kein bisschen Bibliographie. Disparate Wahrnehmung Dass die erhoffte kritische Auseinandersetzung mit der Kubrick-Rezeption nicht stattfindet, mag man dem Buch nachsehen, weil auch die drei anderen, substantielleren Bücher über Kubrick kaum etwas davon ahnen lassen, dass der Mann, der im März 1999 als 70jähriger starb, schon längst Gegenstand der Filmgeschichte war. Alle, ausser dem Kubrick-Biographen Alexander Walker, tun so, als hätten sie Kubrick soeben erfunden. Wobei der als Nummer 8 der Reihe «film» bei Bertz erschienene Sammelband ehrlich genug ist, zuzugeben, dass es sich bei fünf Aufsätzen um überarbeitete Reprints früherer Veröffentlichungen handelt. Es war halt nicht abzusehen, dass der Regisseur so abrupt sterben und schnelle Buchproduktionen erforderlich machen würde. Erstaunlich unter diesen extremen Bedingungen, dass der Bertz-Band nicht nur eine vorzügliche Filmographie aufzuweisen hat, sondern auch eine absolut aktuelle Bibliographie, die, wenn auch als Augenpulver gedruckt, sich als beste Grundlage für alle empfiehlt, die mit Kubrick weitermachen wollen. In diesem Punkt kann nur das als «arte»-Edition bei Schüren erschienene Buch «Stanley Kubrick und seine Filme» von Georg Seesslen und Fernand Jung konkurrieren beziehungsweise könnte es, wenn Herausgeber oder Verlag nicht unsinnigerweise darauf verzichtet hätten, Kritiken in Zeitungen und Zeitschriften mit Nennung der Autoren zu registrieren; jetzt hat man den Eindruck, als hätten «Frankfurter Allgemeine», «Neue Zürcher Zeitung» und «New York Times» die Kritiken selbst geschrieben. Ein geschlossenes Œuvre Gegenüber dem 13-Autoren-Band von Bertz hat das Buch von Seesslen und Jung den Vorteil des konzentrierten, einheitlichen Blicks auf den Regisseur und sein Werk; es ist ein Buch aus einem Guss, das auch nicht darunter zu leiden hat, dass Seesslen mittlerweile zum Viel- und Langschreiber mutiert ist, der auf allen möglichen Hochzeiten und bei allen möglichen Verlagen tanzt. Er überrascht neben Genauigkeit in der Beschreibung und Interpretation der Filme mit der Kenntnis vieler bisher zum Teil wenig bekannter Einzelheiten, ohne freilich immer säuberlich seine Quellen anzuführen. Aus der Einheit des Textes ergibt sich zwingender als im Sammelband von Andreas Kilb, Rainer Rother und den elf anderen bei Bertz die Einheit und Kontinuität des Kubrickschen Werks. Kubrick hat lieber fast alle Genres vom Gangsterfilm in der Tradition der Schwarzen Serie («The Killing») über Science-fiction («2001») und Historiengemälde («Barry Lyndon») bis zum Horrorfilm («Shining») und erotischen Drama («Eyes Wide Shut») bedient, als einen Film quasi zum zweitenmal zu machen, und er wurde von Film zu Film und Jahr zu Jahr skrupulöser. Aber mindestens ein Teil seiner Unverwechselbarkeit und Grösse ergibt sich aus der beständigen Fortentwicklung der Meisterschaft seines visuellen Erzählstils. Seesslen hat neben ausführlichen Synopsen der Filme vor allem ihre optische Präsenz im Blick, wozu sich in dem Band einzelne Bildsequenzen gesellen, deren drucktechnische Qualität allerdings zu wünschen übriglässt. Unendlich viel reicher, mit vielen aus den Filmkopien selbst photographierten und erstaunlich scharf gedruckten Bildsequenzen ist der Band des Bertz-Verlags ausgestattet. In ihm, der auch typografisch einfallsreich und anregend gestaltet ist, ergibt sich aus den Abbildungen eine Art von zweitem Diskurs, der nicht nur buchstäblich neben dem Text einhergeht. Der besteht neben einem Vorspann genannten Vorwort von Lars-Olav Beier, einem erweiterten Feuilleton von Andreas Kilb und einem zusammenfassenden kurzen Essay von Rainer Rother aus Einzelbesprechungen der 13 bekannten Kubrick-Filme. Die Autoren, von Beier über Annette Kilzer bis Frank Schnelle, profitieren alle davon, dass sie die Filme, von denen sie sprechen, in den meisten Fällen als historische rezipiert haben; sie sind meistens Anfang der sechziger Jahre geboren und wurden zu Kinogängern erst, als Kubrick schon seinen vorletzten Film, «Full Metal Jacket» (1987), drehte. So sind Rezensionen aus filmhistorischem Abstand entstanden, Rezensionen, die vor allem von den unterschiedlichen Temperamenten der Schreibenden geprägt sind, oft geradezu missmutig gegenüber den Filmen Kubricks und weder Verbindlichkeit untereinander aufweisen noch sich aufeinander beziehen können. Hier existiert das Œuvre Kubricks nicht mehr als Werk, sondern besteht tatsächlich nur noch aus einzelnen Filmen, die fast nichts miteinander zu tun zu haben scheinen. Die autorisierte Darstellung Genau das allerdings und die Frage nach dem «konzeptuellen Talent», durch das Kubrick sich als Regisseur ausgezeichnet habe, sind der Ausgangspunkt für den vielleicht intimsten Kenner Kubricks und seines filmischen Werks, für Alexander Walker. Er ist es, der mit seinem 1971, als Kubrick gerade seinen siebten grossen Spielfilm, «A Clockwork Orange», drehte, veröffentlichten Buch «Stanley Kubrick directs» sozusagen der Vater der inzwischen weltweit immensen Kubrick-Literatur war. Walkers neues Buch, «Stanley Kubrick. Leben und Werk», erschienen bei Henschel, beruht in wesentlichen Teilen auf der früheren Veröffentlichung und kann sich rühmen, die einzige von Stanley Kubrick autorisierte Monographie zu sein. Kein anderes Buch ist so dicht an seinem Gegenstand, nicht zuletzt weil Walker wie kein anderer fast unbegrenzten Zugang zu Kubricks Werkstatt hatte und praktisch über jeden Film mit ihm sprechen konnte. Wo die andern Bücher dem, der Kubricks Filme kennt, nichts Neues mitzuteilen haben, weiss Walker auf seiner Suche nach dem gemeinsamen Aspekt, der Triebfeder des Œuvre, zum Beispiel, dass Kubrick sich zuerst von Themen faszinieren liess und dann seinen Stil aus seiner Einstellung zum jeweiligen Thema entwickelte und es deshalb zu vermeiden suchte, sich zu früh mit den Möglichkeiten der visuellen Darstellung einer Szene auseinanderzusetzen. Walker entfaltet diese These, die davon ausgeht, dass die Story stets der wichtigste Aspekt für Kubrick war, an «Paths of Glory» genauso wie an «Dr. Strangelove» und «2001: A Space Odyssey», in dem Walker, unterstützt von Kubrick selbst, zu Recht einen Film über die Intelligenz und den Gottesgedanken sieht. Und den ersten Film überhaupt innerhalb des kommerziellen Kinos, der das Medium dazu verwendet, Ideen zu vermitteln. Gekrönt werden sollte Walkers Buch durch eine ausführliche Bildanalyse, exekutiert von dem Designer Ulrich Ruchti und der Filmwissenschafterin Sybil Taylor. Diese Absicht ist nur im Ansatz gelungen, weil weder das gelegentlich geradezu unsensible Layout noch die Qualität der Reproduktionen und des Drucks überzeugen können. Was ein Jammer ist bei einem Buch, das vielleicht nicht unbedingt zu den interpretatorischen Spitzenleistungen der Kubrick-Literatur gehört, aber das genaueste Bild von diesem verschwiegensten Arbeits-Berserker der Filmgeschichte zeichnet. Peter W. Jansen