Literatur geht durch den Magen Österreichische Kulinarik bei Bernhard, Freud und Stifter Von Christiane Zintzen «Eine kulinarische Thomas-Bernhard-Lektüre», «Essen und trinken mit Adalbert Stifter» und «Zu Tisch bei Sigmund Freud». So titeln drei rezente Publikationen, welche Leben und Werk der literarisch «Berühmten» in den feinschmeckerischen Fokus rücken und mit je einer handverlesenen Sammlung von Rezepten glossieren. Als Methode, dem Leser die Lektüre eines Œuvre durch eine «kulinarische» Ersatzhandlung im Bedeutungshof des kulturellen Kanons zu ersparen, erfreut sich die Literatur, die durch den Magen geht, offenbar einer gewissen Konjunktur. Zweifellos zählen die anzuzeigenden Titel zu den gediegenen Exempeln ihres Genres. Die durchwegs akademisch akkreditierten Namen der Autorinnen und des Autors bürgen für sorgfältige Recherche ebenso wie für biographische Diskretion. Die meisten Rezepte wurden sogar im Selbstversuch überprüft – obzwar nicht immer unter so turbulenten Umständen wie Kurt Palms Experimente mit dem Stifter’schen Haselhuhn: Der Aberwitz, ein Exemplar dieses aus den Kochtöpfen weitgehend verschwundenen Vogels überhaupt zu ergattern, gerät – wie auch die hohe Schule des Haselhuhnrupfens – zum kuriosen Vorprogramm eines abendfüllenden Schauspiels kritischer Verkostung des bespeckmäntelten Resultates beim freundschaftlichen Gastmahl. Das Gastmahl, die Tafel und das dort mitunter verlautende kakophonische Stimmengewirr verweisen wiederum auf Thomas Bernhard und seine mannigfaltigen theatralischen Adaptierungen dieses dramaturgisch dankbaren Motivs. BERNHARDS BRANDTEIGKRAPFEN Hilde Haider-Preglers «Kulinarischer Schauspielführer» demonstriert auf rund 90 Seiten, dass es im Bernhard’schen Theater nicht immer nur jene Brandteigkrapfen sein müssen, die Ludwig (alias Gert Voss) am Ende des zweiten Aktes von «Ritter, Dene, Voss» über Tisch und Bühne speit: «dann hassen wir nichts mehr / als Brandteigkrapfen / auch wenn uns andauernd gesagt wird / dass wir die Brandteigkrapfen lieben / wie nichts sonst». Das stets absolute Bevorzugt- und Gehasstwerden eint indes alle Bernhard’schen Literaturgerichte (und nicht nur diese). Die Leserin, der Leser entscheide dies für sich selbst nach getreulicher Befolgung der Rezepte von Einbrenn- (Requisit in dem Stück «Heldenplatz»), Kartoffel- («Die Macht der Gewohnheit») oder Tomatensuppe («Der Schein trügt»), von Blutwurstgerichten («Der Theatermacher», «Auslöschung»), Leber («Kalkwerk»), Kutteln («Der Präsident», «Immanuel Kant»), Ente bzw. Fasan («Die Berühmten») sowie selbstredend von Wiener Schnitzel und Apfelstrudel. Wer die Mühen der Ebene am heimischen Herde scheut, esse – magenschonender: lese! – sich auf des Dichters Fährte durch unumgängliche «Gedankenaufbereitungsmaschinen» wie das noble Café des Hotels Ambassador («Alte Meister») oder das notorische Kaffeehaus «Bräunerhof» («Holzfällen»). Just bei der Evokation sogenannten «Lokalkolorits» verfällt der Text allerdings in säuselnd touristischen Ton, wie überhaupt manch anbiedernd-kokette Formulierung des Buches zwischen «Brigitte» und Fremdenführer changiert. Dass die gute alte «Zuspeis» indes brutaldeutsch als «Sättigungsbeilage» auftritt, gereichte selbst manchem «Billigesser» zur nachhaltigen «Verstörung». FREUDS FREUDEN In bemerkenswert sachlicher Rede und unaufgeregt kühlem Ton nähert sich Medizinerin und Psychotherapeutin Katja Behling-Fischer dem einigermassen prekären Projekt, ein Porträt Sigmund Freuds in seiner Eigenschaft als Esser zu zeichnen. Anders als Bernhard, der sowohl am literarischen Personal als auch am eigenen Leibe – und seiner Lebenskrankheit – die tragikomischen physischen Bedingtheiten menschlichen Geistes stets hervorgehoben hat, eignet dem Nimbus des Begründers der Psychoanalyse eine – nenne man sie «bürgerliche», nenne man sie «wissenschaftliche» – beträchtliche Fallhöhe. Mit Respekt und mit Takt navigiert die Autorin zwischen «allzumenschlicher» Skylla und hagiographischer Charybdis, indem sie den kulturellen und historischen Hintergrund in die Freud-Privatissima integriert. So zeigen sich schon auf dem alimentären Plan die verschiedenen Grade der Assimilierung von Menschen jüdischer Herkunft um die Jahrhundertwende: Entstammte Martha Bernays einem berühmten orthodoxen hamburgischen Clan, leistete sie während ihrer fünfzigjährigen Ehe Verzicht auf religiöse Rituale und kehrte erst nach ihres Gatten Tod zu den jüdischen Speisevorschriften (Kaschrut) zurück. Freud selbst war, obgleich Jude, nicht im orthodoxen Sinne erzogen und geschmacklich auf die böhmisch-österreichische Küche eingestellt. Nicht zufällig disqualifizierte Joseph Roth das von Freud zur Unwahrscheinlichkeit okkultistischer Glaubenssätze formulierte Gedankenspiel, das Erdinnere bestehe aus Marmelade oder Mineralwasser, verächtlich als «Powidltheorie». Quintessenz der böhmischen Mehlspeisküche, figuriert dieses Pflaumenmus höchst prominent in jener 1894 erschienenen «Deutschen Kochschule», die bis zum Tode Annas 1982 in den Haushaltungen der Freuds Verwendung fand. Aus Marthas handschriftlicher Rezeptkladde, besonders jedoch aus den von Detlef Berthelsen aufgezeichneten Erinnerungen der Paula Fichtl, die als Haushälterin 53 Jahre lang die Wirtschaft der Freuds begleitet hat, fügt sich ein plastisches Bild der alimentären Aspekte eines bürgerlichen Gelehrtenfamilienlebens über die Generationen hinweg. Aus den bekannten biographischen Bausteinen – angereichert durch persönliche Hinweise des Enkels, W. Ernest Freud – fügt Katja Behling-Fischer ein biographisch wie kulturhistorisch aufschlussreiches Mosaik: Hier der Patriarch, präsidierend die täglich exakt um 13 Uhr aufgetragene Familientafel, dort der passionierte Pilzesammler, der die sommerfrische Pirsch zusammen mit den Kindern als Höhepunkte familialer Innigkeit empfand. Durch Jahrzehnte belegen zahlreiche Zeugnisse Freuds geradezu groteske Abneigung gegen Huhn und Blumenkohl (Karfiol), welche sogar die Ursache abgeben konnte, gewisse tables d’hôtes pfleglich zu meiden. Synoptisch der biographischen Erzählung zur Seite gestellt, verweisen thematisch gruppierte Werkzitate auf das metaphorische Potenzial der Objekte oraler Begierde: Von der «Dobos»-Schichttorte als Traumsymbol für die tiefgestaffelten Strata des Bewusstseins bis zum «Punsch mit Lethe», den der junge Freud scherzhaft im Briefwechsel mit Wilhelm Fliess mehrfach beschwor. Das Korpus der beigegebenen Rezepte ist vergleichsweise schmal und – ehrlich – als noble Ausstattung dieses reich illustrierten Buchs mehr für den coffee-table als für die Küchenwerkstatt qualifiziert. Warum für die Titelfoto ausgerechnet eine Platte mit halbblutig gegartem Rinderfilet auf die Couch drapiert worden ist, könnte indes noch manche analytische Sitzung beschäftigen. STIFTERS SPARGEL «Der Hunger ist aber so entsetzlich», schrieb Adalbert Stifter im März 1865 an einen Freund, «dass ich sechsmal mehr möchte als die sechsmal.» Frühstück, Gabelfrühstück, Mittagessen (drei Gänge), Kaffee, Jause und Abendessen (drei Gänge). So der diätetische Alltag desjenigen Dichters, der – im grossen Roman «Nachsommer» oder in den Erzählungen der «Bunten Steine» – seinen literarischen Figuren die Gestalt asketischer Edelmenschen verlieh. Seit geraumer Zeit befasst sich die Stifter-Philologie mit der «fürchterlichen Wendung» der weltlichen Lebensdinge, die dem literarischen Proponenten idealischer Lebensgestaltung an der eigenen Leiblichkeit widerfuhr: Depression und Hypochon drie, Gourmandise, ja Alkoholismus erscheinen als bedrückende Kehrseiten einer berückenden und entrückten Imagination. Kurt Palm, Germanist, Regisseur und divers aktiver Impresario, nähert sich dem Leitstern oberösterreichischer Schulpädagogik indes nicht mit dem Hammer des Ikonoklasten, sondern als einfühlsamer Zeuge einer verzweifelt im Idyll sublimierten «Lebenstragödie». Mit sachlicher Feder, sachkundigem Kochlöffel und mit sachdienlicher Beratung von Seiten seiner als «Wirts-Annerl von der Spöck» verdienten Mutter unternimmt Palm seine gastro-biographische Exkursion. Mit reicher Beute kehrt er aus den Jagdgründen der Stifter’schen Lebenszeugnisse zurück. Schon in den kargen Wiener Jahren gerät der Gattin kurzfristige Abwesenheit als Entzug von Liebe und Speise zur nachhaltigen Katastrophe: Die verunglückten Zwetschkenknödel des Dienstmädchens Franzi verursachen gleichermassen Kopf- wie Leibesverstimmung. In Linz, wo Stifter ab 1849 als Landesschulrat lebt, entwickelt der amtsmässig unglückliche und literarisch noch unverstandene Dichter vielgestaltiges Kränkeln und Leiden, dessen Symptomatik er akribisch in Briefen notiert. Ebenso grossen Raum in der Korrespondenz mit Künstlerkollegen und dem Verleger beansprucht die Organisation des Alimentären – das Angebot ist frugal im «Hottentothien» der Provinz. So bittet er im Januar 1858 den Kupferstecher Joseph Axmann um die Beschaffung von «Frankfurter = Wienerwürstel»: «Du darfst die Würstel nur bei kaltem Wetter senden», litten die «edlen Würstel» bei höheren Temperaturen sonst womöglich Schaden. Palm erhellt nicht nur das Geheimnis, warum die Frankfurter Frankfurter «Wiener» nennen, zu Wien diese «Wiener» jedoch «Frankfurter» heissen, sondern erlaubt qua Fleischerhandbuch auch einen Blick in deren heute oft zweifelhaft anmutende Anatomie. Die in Katharina Pratos 1858 erschienener «Süddeutscher Küche» empfohlene Zubereitung hat sich in den seither verstrichenen 150 Jahren nicht verändert und qualifiziert die Frankfurter/Wiener als transhistorisches Gericht. Weniger trivial muten andere Akkorde auf der Stifter’schen Geschmacksklaviatur an: Forellen, Enten, Haus-, Auer-, Reb- und Haselhühner sowie die heute als Wacholderdrosseln besser bekannten Krammetsvögel erscheinen als reizvolle Variationen auf das alte Lied vom «täglichen Brot». Es wäre nicht Stifter gewesen, hätte der Dichter die diätetischen Begleitumstände seiner Krankheiten nicht im Sinne der Feinschmeckerei zu nutzen verstanden: Am 28. April 1864 notiert Stifter in sein Krankentagebuch: «Suppe Rindfleisch Taube Spargel sehr sehr gut.» Sympathetisch, nicht aber sentimental entwirft Kurt Palm das Phantombild eines ebenso gross-artigen Dichters wie Essers. Extrakte aus zeitgenössischen Kochbüchern vermitteln manch kulturhistorische Impression – obgleich nicht alle Rezepturen dem kritischen Blick der Heutigen standzuhalten vermögen. Reinhold Gerer, Chef der Wiener Haubenrestauration Korso, glossiert die von Palm empfohlene Semmelknödelrezeptur lakonisch: «Das werden Steine!» Vermutlich jedoch keine im eigentlichen Stifter-Sinne «bunten» . . .